Auf drei Rädern


Rundkurs Ostsee

 


Taschenbuch, ISBN 978-3-96014-346-8, € 16,90
E-Book, ISBN 978-3-96014-348-2 , € 5,99
252 Seiten, erschienen 2017

edition winterwork

 

 

Die Zeit des familiären Nachspürens war vorerst abgeschlossen. Mit ihrem Ehemann Gerd begab sich die Autorin wieder auf Reisen. Dieses Mal motorisiert und doch nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatten.


Welches sind die drei Stadien einer Oldtimerausfahrt? Die Antwort lautet: gar nicht erst losfahren, unterwegs liegenbleiben oder am Ziel ankommen! Diese Reise begann mit einem Flop! Statt mit Zweiradoldtimern startete das Autorenpaar ihre Ostseeumrundung mit einem 18 Jahre alten Motorroller plus Seitenwagen der Marke Honda-Helix. Die Ostseeanrainerländer beeindruckten die Reisenden mit altehrwürdigen Hansestädten, sowie quirligen Haupt- und Hafenstädten. Die fantastischen Naturimpressionen wie die riesigen Wanderdünen, die Baltische See, mal wild, mal zahm, die Küsten und die weiten Wälder hinterließen unauslöschliche Eindrücke. Ein Abstecher zum Nordkap unterbrach den Ostseerundkurs. Die inspirierende Einöde von Tundra und Taiga im hohen Norden faszinierte nachhaltig. Abgerundet wird der Reisebericht durch launige Erlebnisse der beiden Rollerfahrer. Rund zwei Monate und 8.000 Kilometer später blickte das Ehepaar zurück auf eine bemerkenswerte Fahrt. Einige Einblicke in die Befindlichkeiten der Völker im Norden Europas wurden ihnen offenbar.

Leseprobe:

 

Finnland, Tacho am 2. Juni 2015: 32.017 km, das sind bisher 2.922 gefahrene Kilometer.

Die großartige Natur ist ein besonderes Markenzeichen des Landes der 1.000 Seen, wie die Republik Finnland gern genannt wird. Wobei die Zahl Tausend eine glatte Untertreibung ist. Wir werden bei der Weiterreise abermals tief eintauchen in das Naturerlebnis.
Karren wieder flott, weiter geht’s! Aber wohin? Die finnische Hauptstadt Helsinki stand auf dem Plan, dorthin waren wir ja mit der Fähre unterwegs. Das Fährhafengebiet in Helsinki ist verwirrend. Inseln, Brücken und Baustellen machten es schwer, uns zurechtzufinden. Mit den Richtungsanzeigen auf den Verkehrsschildern konnten wir zunächst nichts anfangen, weil wir nicht wussten, wo genau die genannten Stadtteile überhaupt liegen.
Ein Navi habe ich nur auf meinem Smartphone. Den fünf Sterne Campingplatz Rastila am Stadtrand wollten wir finden und kreiselten im Stadtgebiet herum, die vielen Baustellen auch hier erschwerten die Suche. So langsam wurde es Gerd zu bunt, das Handy-Navi musste ran. Er selber konnte es nicht bedienen, denn das Verkehrsaufkommen war enorm. Es war meine Aufgabe, die Ansagen zu machen. Ich hatte jetzt gleich gegen mehrere Elemente zu kämpfen. Erstens mit dem Telefon-Display, denn scheint die Sonne rein, habe ich null Sicht, konnte unter Umständen nicht schnell genug Anweisungen geben. Zweitens mit dem Verkehrslärm und dem des eigenen Fahrzeugs. Die Verständigung war schwierig. Ich brüllte Gerd die Fahrtrichtungen zu, oft hörte er meine Instruktionen nicht rechtzeitig und fuhr in eine falsche Richtung. Drittens die Baustellen, die Umleitungen machten uns reinweg verrückt, und viertens ist mein Handy nicht für so umfangreiche Anwendungen gemacht. Die Energie war bald am Ende. Ein Schild tauchte am Straßenrand auf, ›Campingplatz in 10 Kilometern‹, puh, na bitte, geht doch, bis dahin hält der Saft.
Der Zeltplatz hat mehrere Standortvorzüge. Die da sind, die Anbindung ans Metro-Bahnnetz, der Einkaufsladen in der Nähe und die schöne Umgebung am Wasser. Außerdem ist der Platz sehr gepflegt und sauber, Waschmaschinen und Wäschetrockner stehen den Gästen zur Verfügung. Hier fühlten wir uns wohl und von hier aus unternahmen wir die Entdeckungstouren durch die Stadt. Die Stadtbahn brachte uns ins Zentrum.
Im Februar des Jahres 1982 waren wir beide letztmalig in Helsinki, unsere damals eineinhalb jährige Tochter begleitete uns. In Travemünde bestiegen wir im tiefsten Winter das Fährschiff ›Finnjet‹ und erlebten eine sehr interessante Seereise durch die Eisdecke des Finnischen Meerbusens. Der Rumpf der Finnjet war extra für die Eisfahrten verstärkt worden. Ich habe heute noch den unvergleichlichen hohlen Klang, das Knirschen im Ohr, wenn die Eisschollen dumpf gegen den stählernen Schiffsrumpf schlugen. In der finnischen Hauptstadt stiefelten wir von einem Schneehaufen zum anderen. Ich brenne darauf, wieder die skandinavische Winterszeit zu erleben, und hauptsächlich fasziniert mich dabei der hohe Norden, die Polarnacht, dazu später mehr. Nach unserem Helsinki-Besuch im Winter 1982 stiegen wir im Hauptbahnhof in den russischen Eisenbahnwaggon. Nach achtstündiger Bahnreise durchs verschneite Karelien erreichten wir Leningrad, wie Sankt Petersburg seinerzeit hieß.
Jetzt hingegen reisten wir um die Zeit des Mittsommers! Ich hatte erläutert, weshalb wir nicht Russland ansteuerten. Die weißen Nächte, die hellsten Sommernächte des Jahres in St. Petersburg sollen legendär sein. Partys, Konzerte und Showveranstaltungen am und auf dem Wasser unterhalten die Gäste. Das ist jedoch ein Thema für eine Extra-Reise. Zwar bieten die Reisebüros und die Fährgesellschaften genauso wie in Tallinn, visafreie Kurzreisen zum benachbarten Vyborg oder nach St. Petersburg an, indes müssten wir für diese Zeit den Motorroller irgendwo sicher abstellen. Da das Gespann nicht in unserem Eigentum stand, wollten wir nicht so leichtsinnig sein, es an irgendeinem unbekannten Ort zu parken. Wir unternahmen stattdessen eine sommerliche Erkundungstour durch Helsinki.
Wie schon bei unserem ersten Besuch im Winter vor dreiunddreißig Jahren beeindruckte uns die Felsenkirche, die offiziell ›Temppeliaukion Kirkko‹ heißt. Ein Kirchenraum wurde in einen Felsen eingelassen, die natürlichen Felswände kleiden den Innenraum vollständig aus. Von außen ist die Kirche als solche nicht auf den ersten Blick zu erkennen, von den Wohnhäusern in der Nähe wird das Bauwerk glatt überragt. Wir wären auf der Hauptstraße fast daran vorbei gelaufen. Im Inneren überrascht das Gebäude umso mehr. Felswände, Glasfenster in großer Anzahl, die kupfernen Orgelpfeifen und die Kupferkuppel, die sich darüber wölbt, das sind die schmückenden Elemente. Dieses Kirchengebäude ist außerdem wegen der ausgezeichneten Akustik berühmt, die dort gegebenen Konzerte sind Klangerlebnisse der besonderen Art. Die Fensterfront zwischen Fels und Kuppel taucht den Raum ins Tageslicht und verleiht der Architektur gekonnt die unvergleichliche Leichtigkeit. Weiteren Dekors bedarf es nicht, denn die Kirche besticht durch ihre einzigartige, geniale und natürliche Schlichtheit.
Der Hafen, die Märkte, Brunnen, imposante Denkmäler, der Dom und der eindrucksvolle Hauptbahnhof rundeten das Bild ab. Das bevölkerungsschwache Finnland feierte viele Erfolge bei den olympischen Sommerspielen, hauptsächlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beim futuristisch anmutenden Olympiastadion wird an den erfolgreichsten finnischen Leichtathleten, den legendären Läufer Paavo Nurmi (1897 - 1973) erinnert. Dieses Stadion ist ein erstaunlich modern erscheinendes Bauwerk, das man im Jahr 1938 einweihte. Es war seinerzeit als Veranstaltungsort für die Olympischen Spiele 1940 vorgesehen. Kriegsbedingt fielen die Spiele aus und endlich wurde 1952 die Stadt Helsinki zum Austragungsort. Aktuell stehen für ein Land im Norden, das den Mangel an Schnee nicht kennt, natürlich auch die nordischen Skisportarten im Vordergrund. Die Wintersportler Finnlands rangieren im Medaillenspiegel unter den ersten zehn Nationen in ihren Disziplinen. Ski- und Eissportarten sind Volkssportarten. Der Stolz der Finnen auf ihre Olympioniken wird überall in der Stadt sichtbar.
Wer durch Helsinki streift, dem fällt immer wieder der Name ›Mannerheim‹ auf. Der Aristokrat, im Jahr 1867 geboren und 1951 gestorben war Feldmarschall und Staatspräsident von Finnland. Auf dem Boulevard Mannerheimintie erinnert ein Reiterdenkmal an den Staatsmann. Ich finde dieses Denkmal ungewöhnlich, denn normalerweise erinnern pompöse Reiterstandbilder an Könige. Carl Gustaf Emil Mannerheim sitzt relativ schicht in Uniform gekleidet hoch zu Ross auf einem Sockel über der Straße mit seinem Namen. Die Lebensleistung des Offiziers, der lange Zeit in militärischen Diensten des zaristischen Russlands stand, ist nicht unumstritten. Nach dem Bürgerkrieg von 1918 verhinderte er nicht die anschließenden Racheaktionen an den Mitgliedern der unterlegenen ›roten Arbeiterschaft‹. Seiner Karriere insgesamt schadete das Verhalten jedoch nicht. Im Gegenteil, im heutigen Finnland genießt der Name Mannerheim großen Respekt. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs distanzierte sich der Freiherr von den nazideutschen Verbündeten, um mit den Sowjets einen Separatfrieden abzuschließen. Innerhalb der ›Deutschen Wehrmacht‹ sprach man daraufhin vom »Verräter Mannerheim«. Die deutschen Truppen mussten ihre Stützpunkte in Finnland verlassen, allerdings nicht, ohne vorher die Landstriche zu verwüsten.
Das Besichtigungsprogramm machte müde, wir suchten uns ein gemütliches Plätzchen zum Entspannen. Da müsse man unbedingt hin, das Café Ekberg sei die älteste Konditorei in Helsinki, sagte man uns. In der Straße Bulevardi fanden wir es, dort luden wir bei Kaffee und Napoleonkuchen die Akkus wieder auf. Wir brauchten noch etwas neue Energie, um in Läden, Boutiquen und Galerien zu stöbern, denn schließlich sind Finnlands Designer weltbekannt. Als Pendant zum ›Land der 1.000 Seen‹, könnte die kreative Welt auch so bezeichnet werden: ›Land der 1.000 Ideen‹.
Wir verabschiedeten uns vom Großstadtrummel und waren wieder unterwegs. Autobahnen sollten hauptsächlich gemieden werden, das war nicht immer möglich. Damit wir uns nicht im Gewirr der Inseln verheddern, benutzten wir den Autobahnring um die Stadt herum. Die Absicht war, Helsinki ohne Umwege zu verlassen. Großstadtfahrten sind anstrengend für Mensch und Maschine. Sobald wir die Richtung Turku eingeschlagen hatten, kehrten wir zurück auf die kleinen Straßen. Es ging den ganzen Tag durch ausgedehnte Wälder, über Felder. Auf den freien Flächen zerrten kräftige Windböen am Gespann, welches sehr seitenwindanfällig ist. Gerd musste ständig gegensteuern, das war mit einer hohen Konzentration auf das Fahrverhalten des Gefährtes verbunden. Wenigstens sind die Landstraßen im ausgezeichneten Zustand.
Zwischendurch legten wir eine Pause ein, um uns umzuziehen. Die Kälte machte uns zu schaffen, wir froren wie die Schneider, brauchten ein zweites Paar Handschuhe und wärmere Pullover zum Darunterziehen. Selbst für Finnland sind derartig niedrige Temperaturen im Frühsommer nicht üblich und wir hielten uns ja erst im Süden des Landes auf.
An einer Tankstelle hatten wir ein kurioses Erlebnis. Wenn der Tank der Honda-Helix voll befüllt wurde, machte die Tankrechnung üblicherweise so um die zehn bis fünfzehn Euro aus. Wir tankten mindestens einmal täglich, da produziert man ellenlange Kontoauszüge, zahlt man selbst alle kleinen Rechnungen mit der EC-Karte. Von den für die Transaktionen fälligen Bankgebühren wollen wir erst gar nicht sprechen. Mein Mann wollte dementsprechend folgerichtig die Mini-Tankrechnung mit Bargeld begleichen und beharrte entgegen dem Widerstand der Kassiererin auf Barzahlung! Cash, ein alltäglicher Vorgang, sollte man glauben. »Geht’s noch!«, schrieb Gerd ins Tagebuch, denn die Tankwartin verlangte von ihm die Vorlage des Personalausweises, als er auf der Bargeldabwicklung bestand. Gerd war empört! Das kann doch nicht angehen, verbuchen wir die Geschichte mal unter andere Länder, andere Sitten.
Das nächste Etappenziel war Rauma, die drittälteste finnische Stadt, am Bottnischen Meerbusen gelegen. Bei der Stadtgründung im 15. Jahrhundert war der schwedische König Souverän von Finnland. Im gesamten nordischen Raum war das Holz der bevorzugte Baustoff für die Gebäude. Immer wieder wurde, besonders im nördlichen Europa, von gewaltigen Brandereignissen berichtet. Auch die Stadt Rauma beklagt 1640 und zuletzt 1682 zwei Brandkatastrophen kurz hintereinander. Seither ist großflächig nichts mehr niedergebrannt, die hölzerne Altstadt ist vollständig erhalten und ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen worden. Reichlich sechshundert Holzhäuser zählt das Altstadtareal. Häuser in bunten, teils kräftigen, teilweise pastelligen Farben säumen die engen, Kopfstein gepflasterten Gassen. Die Türen und Fenster sind mit andersfarbigen Schmuckelementen verziert.
Diese Altstadt hier hat eine besonders heimelige Atmosphäre. Wir schlenderten durch die kleinen Sträßchen und gönnten uns ab und zu einen neugierigen Blick hinter die Holztore, hinein in die kleinen Gärten. Nein, nein keine Angst, Voyeure sind wir nicht. Ein paar Geschäfte laden zum Stöbern in den Auslagen ein, eine gute Gelegenheit, die Ausrüstung zu ergänzen. Wegen der Kälte brauchte ich einen wärmeren Schal, ich hatte darauf gehofft, hier ein Wollexemplar zu finden, dafür sind Boutiquen wohl doch nicht die richtigen Läden. Ach egal, wir genossen den herrlichen Tag in der Sonne und beobachteten vom Café am Marktplatz aus das Treiben auf den Straßen. Dazu servierte man uns Kaffee und köstliche Zimtschnecken.
Raumas Campingplatz Poroholma ist ein Fünf-Sterne-Objekt, auf einer wunderschönen Halbinsel gelegen. »Genialer Platz«, befand Gerd. Auf einem bewaldeten Hügel stand unser Zelt, völlig alleine, ohne direkte Nachbarn. Sogar Anfang Juni ist hier noch keine Saison und entsprechend unbelebt war der Ort. Die Sportboote im Gästehafen dümpelten abgedeckt vor sich hin und für die Wasserbusse zu den Inseln gab es noch keinen Fahrplan. Wir jedenfalls hatten dort oben auf der Anhöhe einen Logenplatz, blickten aufs Wasser, den kleinen Hafen und die felsigen Küstenlandschaften. Den Abend verbrachten wir in warme Decken gehüllt im Windschatten eines Pavillons an der See und ließen den Tag gemütlich ausklingen.
Im Ferienhaus am gegenüber liegenden Ufer wurde eingeheizt. Zunächst dachte ich an ein Grillfeuer. So’n Quatsch! Das ist mal wieder typisch, wenn in Hamburg Feuer angemacht wird, ok., dann grillt man, aber doch nicht so in Finnland. Das zeigt ja wohl, wie wenig wir mit den finnischen Gepflogenheiten vertraut waren. Es handelte sich selbstverständlich um eine Sauna, die angeheizt wurde. Ohne ihr heiß geliebtes Schwitzbad können und wollen die Leute hier gar nicht existieren. Einige Zeit später hörten wir, wie die Badegäste zur Abkühlung ins kalte Ostseewasser plumpsten. Nochmal, das Saunabad ist den Finnen enorm wichtig, nein, Finnland ohne Sauna ist undenkbar. Ich habe dort keinen Campingplatz erlebt, der nicht über eine derartige Einrichtung verfügte. Kleine Häuschen, windschiefe Hütten, große Tonnen, Saunalandschaften in Schwimmbädern, das finnische Badevergnügen kennt viele ausgefallene Formen. Entlang der Küstenlinien, an den Ufern von Flüssen und Seen stehen sie, die Wege dorthin stets kurz, um mal schnell ins Wasser, im Winter ins Eisloch einzutauchen. Gerds Ding ist das Schwitzbad absolut nicht, deshalb fiel das Badevergnügen für uns aus, was soll ich auch alleine vor mich hin schwitzen.
Dass Finnen und saunabaden zusammengehören, haben wir nun begriffen. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass sich der Tangotanz in diesem Land allergrößter Beliebtheit erfreut. Die argentinische Variante wurde im Laufe des letzten Jahrhunderts auf die besonderen Bedürfnisse der nordischen Tanzpaare nach körperlicher Nähe zugeschnitten. Die Finnen bewegen sich in dem ohnehin schon erotisch und melancholisch aufgeladenen Tango noch eine Spur enger, körperbetonter und schwermütiger. Die ausgesprochene Engtanzversion ist die finnische Antwort auf lange dunkle Winternächte! Einmal dafür entflammt schlurfen die Paare voller Hingabe übers Parkett. Tangoveranstaltungen und Festivals krönen diese Leidenschaft, die in der Beliebtheitsskala so in etwa gleich hinter dem Saunabaden rangiert.
Ich hoffe sehr, dass wir, äh, dass ich nicht in die Verlegenheit komme, tanzen zu müssen. Der Tango, für mich schlechthin der getanzte Albtraum meiner Tanzschulzeit! Vermutlich hilft gegen die Ängste nur ein gewaltiger Schluck Wodka! Aber kriegt man dann noch seine Beine sortiert, wenns schon nüchtern nicht mit rechts und links klappen will? Wie wir heute wissen, ging der Kelch an uns vorüber. Gerd wurde nicht genötigt zu schwitzen, jedenfalls nicht in der Sauna und ich musste nicht den Tango oder sonst was tanzen. Vielleicht oder sogar gewiss ist das schade drum. Wir sind eben einfach nur kleine Feiglinge, alle beide.
Eine bayrische Grundschule setzte Ende der 1950er alles daran, mich vom Laster der Linkshändigkeit zu befreien. Das war ein ziemlich missglückter Versuch, mit Spätfolgen! Schreiben, ja, das mache ich seitdem mit der ›guten‹ rechten Hand, mein Verständnis für rechts und links wurde jedenfalls durch die Brachialmethode vollständig durcheinandergewirbelt. Deshalb ist Tanzen für mich schlichtweg eine Katastrophe, weil ich die Seiten halt anders interpretiere als der Rest der Welt. So kam es vor, dass mich ein Tanzpartner fragte, »wer führt hier eigentlich, ich oder du?«. Mein Fahrlehrer in den 1970er nahm es dann doch etwas sportlicher und sagte mir, er meine die andere linke Seite, wenn ich falsch abbiegen wollte. Ja, als Beifahrerin bin ich ein echter Gewinn! Die Pädagogen der Fünfziger haben ganze Arbeit geleistet, und zwar nicht nur bei mir. Auch die Schulen Hamburgs akzeptierten keine Linkshänder und so trimmte man meinen links orientierten Gerd gleichfalls auf rechts. Bei ihm waren die Auswirkungen nicht ganz so gravierend. Trotzdem sind wir in dieser Hinsicht eine Schicksalsgemeinschaft, außerhalb von handschriftlichen Arbeiten machen wir beide alles mit links. Bei unseren Kindern haben wir dafür gesorgt, dass sie so links schreiben dürfen wie sie möchten.
Bei den christlichen Pfadfindern habe ich Landkartenlesen gelernt, war eine hervorragende Sache und darin bin ich wirklich gut. Nur leider hapert es gelegentlich an der Wiedergabe bei den Bezeichnungen. Ich meine natürlich immer die richtige Seite, verhaspel mich manchmal, besonders wenns schnell gehen muss. In dieser Beziehung verlief unsere Reise folgerichtig nicht gänzlich störungsfrei. Ich hockte ja zusammen mit den Straßenkarten im Beiwagen und gab die Richtungen vor. Manchmal ignorierte Gerd meine Anweisungen, weil er mir nicht glaubte, oder annahm, ich hätte bestimmt wieder die andere Seite gemeint. So diskutierten wir lautstark über die Fahrtrichtung, weil ja das Motorgeräusch zu übertönen war. Es konnte mehrere Kilometer dauern, bis Einigung entstand, umgedreht oder weitergefahren wurde, je nach Ergebnis. Er könnte es ja besser wissen aber, er wollte mich einfach ärgern: »Verdammt noch mal, warum fährst du da immer noch weiter, das ist doch falsch.« So wurde mir in meinem Seitenwagen meine Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer wieder sehr deutlich vor Augen geführt. Mit einem eigenen Motorroller hätte ich den Blinker gesetzt und wäre abgebogen. Ende der Durchsage!

 

... und Ende der Leseprobe!