Hinein in die Vergangenheit der Familie

Reisen lassen sich auch in die Vergangenheit machen, wie beispielsweise hinein in die Geschichte der eigenen Familie des 19. und 20. Jahrhunderts:

KURZENBERG
Wassermühle von Lodmannshagen

 

Großvater Wilhelm Kurzenberg zeichnete die Geschichte der Wassermühle von Lodmannshagen auf. Von 1891 bis 1932 befand sie sich im Familienbesitz und die Zeitspanne beeinflusste die Lebenswege der Bewohner nachhaltig. Die gesamte Chronik deckt die Epoche vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 2. Weltkriegs ab. Drei Generationen sind in Gesprächsform an der Berichterstattung beteiligt. Zitate aus handgeschriebenen Dokumenten, Verträgen, Protokollen und Kladden vervollständigen den Text. Informationen zur politischen Lage der jeweiligen Zeit machen die Entdeckungsreise anschaulich.
Eine Reise in die Vergangenheit der Familie ist wie eine Expedition zu sich selbst. Die Fahrkarte dafür stiftete Großvater Wilhelm, denn er verfasste eine Familienchronik, die eine Etappe lang auch mit der Historie der Wassermühle von Lodmannshagen identisch ist. 1891 kauften die Kurzenbergs das marode Mühlenanwesen und hielten es über vier Jahrzehnte im Familienbesitz. Der Verfasser beschrieb detailreich die Technik, das Müllergewerbe und die wirtschaftlichen Gegebenheiten jener Zeit. Die unvollendete Chronik ergänzte sein Sohn Otto, mein Vater. Ich wählte die Gesprächsform für dieses Buch, denn so kann der Chronist via Textpassagen aus dem Originaltext mit eingebunden werden.
Drei Generationen folgten somit den Lebenswegen der Vorfahren, Großvater Wilhelm, Vater Otto und ich, Tochter Reingard. Meine Mutter Christine lenkte den Blick schon mal kurz auf ihre sudetendeutsche Heimat. Ab 1949 wird sie in den Familienverband aufgenommen werden. Gemeinsam entdeckten wir, dass Familiengeschichte niemals losgelöst von den politischen Ereignissen betrachtet werden kann. Außerdem eröffneten uns alte Urkunden die Sicht auf das für uns fremdartige Zeitalter Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Schicksale der Bewohner der Wassermühle wurden besonders durch den Ersten Weltkrieg und seine dramatischen Folgen beeinflusst.
Wie lebten die Vorfahren, was war ihnen wichtig? All diesen Fragen war hinterherzuspüren. Welche Charaktere hatten sie und welche Merkmale davon haben sich bis heute in der Familie erhalten? Wilhelm wollte erreichen, dass seine Nachkommen die Familienmitglieder und deren Geschicke kennenlernen können.
Am 7. Januar 1947 starb er, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Für uns Chronisten endet mit seinem Tod dieser Teil des Buches »Wassermühle von Lodmannshagen«. Es handelt sich indes nur um eine Unterbrechung der Zeitreise, denn die Familiengeschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Das ersehnte Kriegsende war für meine Eltern damals kein Grund zum Aufatmen. Deshalb die Fortsetzung mit dem Titel: »Heimat im Herzen«!

KURZENBERG
Wassermühle von Lodmannshagen
Erster Teil der Familienchronik
Taschenbuch, ISBN 978-3-96014-049-8, € 16,90,
E-Book, ISBN 978-3-96014-072-6, € 5,99,
294 Seiten, erschienen 2015

 

Meine Eltern Otto und Christine sind Zeitzeugen und sie erzählen ihre Sicht auf die damaligen Ereignisse:

KURZENBERG № 2
Heimat im Herzen

 

 

Die Eltern berichten vom Kriegsende 1945. Demütigungen, Ohnmacht, Verzweiflung, Gewalt, so erlebten sie die Folgezeit. Mutter Christine verlor ihre sudetendeutsche Heimat, Vater Otto geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Diese Zeit prägte sie nachhaltig. Anfang der 1950er gründeten sie eine Familie und bauten sich eine bescheidene Existenz in der DDR auf. 1955 wurde die Lage brenzlig, Ottos Flucht über die Berliner Sektorengrenze in den Westen war geboten. Christine floh ein paar Wochen später, zusammen mit den vier Kindern. Die Familienchronik beschreibt das Lagerleben und die Zeit des Ankommens.
Die Zeitreise geht folglich weiter. Meine Mutter Christine schildert die Demütigungen und die Drangsal durch die Tschechen, die sogleich nach dem Kriegsende 1945 ihr Heimatdorf »übernommen« hatten. Zwar gab es für sie seit dem Kriegsausbruch schon keine unbeschwerte Jugendzeit mehr, nun aber wurde die Bedrohung immer massiver. Einen Teil der Dorfbevölkerung wies man sofort aus, die anderen Bewohner, wie Christines Familie, mussten noch ausharren, um die Landwirtschaften zu versorgen. Es war die Zeit der Willkür! Im Juli 1946 kam dann auch für die verbliebenen deutschen Dorfbewohner der Tag des endgültigen Abschieds von der Heimat. Im Sommer des Jahres wurde es für die Heimatvertriebenen schwierig, Quartier innerhalb Deutschlands zu finden. Der Grund lag in der Überbelegung der Flüchtlingsunterkünfte. Die meisten Kommunen der sowjetischen Besatzungszone wollten oder konnten die vertriebenen Sudetendeutschen nicht aufnehmen. Letzten Endes verteilte man die Leute auf verschiedene Gemeinden an der vorpommerschen Ostseeküste. So gelangte Christines Familie nach Lubmin. Das Dorf Lubmin, Seebad am Greifswalder Bodden wiederum gehört nun zur Heimatregion ihres späteren Ehemannes. Mein Vater Otto geriet wenige Tage nach der deutschen Kapitulation in russische Gefangenschaft. Es gelang ihm nicht rechtzeitig und vor allem nicht unbemerkt, die Insel Rügen zu verlassen. Er erzählt uns, unter welchen unwürdigen Bedingungen er die ersten Jahre der Kriegsgefangenschaft erlebte. Überlebte, wäre in diesem Fall der präzisere Ausdruck, denn Mangelernährung, schlechte medizinische Versorgung und Gewaltanwendung machten den Häftlingen der Leben verdammt schwer. Andererseits erfuhr Otto in der schwierigen Zeit viel Kameradschaft, selbst von Seiten der Sowjets. Im Frühjahr 1949 entließen die Russen ihn aus dem Kriegsgefangenenlager im ostpreußischen Königsberg. Nur wenige Tage nach seiner Heimkehr lernten sich meine Eltern kennen. In Gesprächsform berichten beide davon, unter welchen großen Herausforderungen sie den eigenen Hausstand und die Familie gründeten. Sehr schnell wurde klar, dass das DDR-Regime mit unlauteren Methoden arbeitete. Sie registrierten die Enteignungen der »Aktion Rose« 1953, die Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni des gleichen Jahres und das Wahlsystem, das eigentlich dem Bürger keine Wahlmöglichkeit ließ. All die Einschränkungen und Gängelungen ertrugen Christine und Otto. Erst in jenem Moment, in dem die persönliche Freiheit bedroht wurde, verließen die Eltern zusammen mit uns vier Kindern 1955 die DDR in Richtung Westen. Selbst so viele Jahrzehnte später ist das Thema Republikflucht mit großen Emotionen verbunden.
So berichten Mutter und Vater als Zeitzeugen von den Auswirkungen der Teilung auf Bürger und Staatswesen. Ihr Leben in den beiden deutschen Staaten schildern sie genauso wie ihre Flucht nach West-Berlin und ihren Alltag in den Flüchtlingslagern. Die Zeit des Ankommens in Westdeutschland war überschattet von ihrer Trauer um die abermals verlorene Heimat.

 

KURZENBERG № 2
Heimat im Herzen
Zweiter Teil der Familienchronik
Taschenbuch, ISBN 978-3-96014-095-5, € 16,90,
E-Book, ISBN 978-3-96014-119-8, € 5,99,
296 Seiten, erschienen 2016