Kurzenberg

KURZENBERG - Wassermühle von Lodmannshagen

 

Viele Begriffe sind heutzutage nicht mehr im gängigen Sprachgebrauch, die wurden in Fußnoten (FN) erklärt. Genausowie die geschichtlichen Ereignisse, um den "Zeitgeist" zu verdeutlichen.

 

Leseprobe:

 

Inhalt

Die Chronik entwickelt sich    9
Lebensbänder der Kurzenbergs     18
Treffen an der Ostsee    24
Wilhelm vertellt    
Uns’ Schaultied    29
Bi uns in’t 19. Johrhunnert    39
Ümtrecken to Wåter un to Land    45
De Wåtermähl    53
Dat Dörp    77
De Fomilienarbeit    86
Wåderwirtschaft    104
Inne Bredulje    110
De niege Wåtermähl    120
Pommernland ist abgebrannt!    125
Otto erinnert sich    
Familiensinn    134
Die Technik der modernisierten Mühle    142
Das Trauma 14/18    153
Die Großfamilie    161
Mit dem Rücken zur Wand    179
Schluss … Aus! … Vorbei?    194
Die Folgen    203
Ludwigs Tod    219
Zeitenwende    232
Die Weltkriegskatastrophe     248
Die Welt in Trümmern    279
Das Räderwerk der Mühle    285

Wilhelm vertellt, Seite 29-38
Uns’ Schaultied
Zahlreiche und ereignisreiche Jahre gingen ins Land, bevor der Müller die Chronik fortsetzte. Im April 1941, als die Wassermühle längst nicht mehr im Familienbesitze weilte, nahm er die Berichterstattung wieder auf. Ich merke es bei mir selber, ich passe meine Sprache ganz offensichtlich seiner Zeit an. Der Epoche des 19. Jahrhunderts.
Großvater Wilhelm war der Sohn des Mühlenbaumeisters Johann Ludwig Joachim Christian Kurzenberg und seiner Frau Elise Gustave Christine Behm. Vom Anwesen des Schwiegervaters Behm, von Schaprode aus, ging Ludwig dem Gewerbe des Mühlenbaus auf der Insel Rügen nach. Seine Ehefrau Elise kümmerte sich um Kinder, Haus, Garten und um die dazugehörigen Tiere des Dorfhaushaltes. Mit der Lebens- und Familiengeschichte der Kurzenbergs wird Wilhelm gleich selber zu Wort kommen:
»Ich bin am 18. Januar 1879 zu Helle geboren. Kurz nach meiner Geburt sind die Eltern nach Schaprode übersiedelt. Am 2. September 1882 wurde mir ein Brüderchen (Ernst) geboren, das kaum eine Woche alt, schon starb. Am 21. November 1886 wurde mein Bruder Otto geboren.
Seit Ostern 1885 besuchte ich die Volksschule in ­Schaprode. Der Lehrer und Küster hieß Peters, war gerade erst dorthin versetzt worden und war ein vielgeplagter Mann. Unsere Klasse von den jüngsten ABC-Schützen bis zum letzten Jahrgang umfaßte 90 bis 100 Kinder. Wie ich dort abging, waren es sogar 102 Kinder. Außer von Schaprode waren die Kinder von Poggenhof, Retelitz und Seehof dort eingeschult. Viel lernen konnte man bei dem einen Lehrer nicht. Gesang und Geographie waren seine Lieblingsfächer.
Der Schaproder Kinder-Kirchenchor unter seiner Leitung war bekannt. Auch ich gehörte diesem an. Da in der Kirche keine Orgel war, mußte unser Kinderchor zu jedem sonntäglichen Hauptgottesdienst vollzählig zur Stelle sein, was auch jeder kleine Sänger oder Sängerin mit Liebe und Hingebung taten.
Kurz nach dem Weggang des Pastors Heller, es mag 1886 oder 1887 gewesen sein, kam auch ein neuer Geistlicher, Pastor Albert Weishaupt zur Schaproder Gemeinde. Wie schon gesagt, viel lernten wir in der Schule nicht, das hatte der neue Pastor bald herausgefunden. Ein zweiter Lehrer wurde während unserer Zeit nicht nach dort berufen, es fehlte auch ein Klassenraum, da das alte Küsterschulhaus nur einen Schulraum hatte. Bei den Eltern und Angehörigen der begabtesten Schüler sprach Pastor Weishaupt vor, mit dem Anerbieten, Privatunterricht zu erteilen. Viel Erfolg hatte er nicht damit, da die Mehrzahl nicht so bemittelt war. Es gelang ihm nur, zwei kleine Zirkel zusammenzubekommen. Der Stundenpreis betrug 1,50 Mark.
Montags und donnerstags von 11 bis 12 Uhr hatten die älteren Schüler, Heinrich Mundt und Peter Gau, Unterricht. Dienstags und freitags hatten die drei Jüngsten ihre Unterrichtsstunde. Gustav Weidemann, der Kaufmanns- und Gastwirtssohn, Paul Möller, der Sohn vom Tischlermeister Möller und ich, Wilhelm Kurzenberg, der Sohn des Mühlenbauers Johann Ludwig Kurzenberg. Unsere Stunde dehnte sich aber meistens auf 2 Stunden aus, sodaß wir oft nicht mehr Zeit zum Mittagessen hatten, um wieder zur Schule bei Peters zu gehen. Der Unterricht bei Peters dauerte täglich von 8 bis 11 (Uhr) und 1 bis 4 (Uhr) nachmittags. Mittwochs und Sonnabends nur vormittags.
Trotzdem wir drei Jüngeren es anfänglich sehr schwer hatten, den uns unbekannten Stoff zu bewältigen, so hatten wir doch bald Freude daran. Gelehrt wurden Deutsch und Rechnen und ich denke noch oft und gern an diese Unterrichtsstunden zurück. Da ich auch im Zeichnen begabt war, sollte ich späterhin einen technischen Beruf ergreifen und noch bessere Schulen besuchen.
1 ½ Jahre dauerte dieser Privatunterricht bei Pastor Weishaupt, einem Thüringer. Möller wurde konfirmiert, Weidemann kam nach Stralsund zur Schule, ich blieb allein übrig. Mein Vater erwog, ob er mich ebenfalls einer städtischen Schule zuführen sollte, dabei kam eine Übersiedlung nach Berlin, etwa Pension bei meinem Onkel, Mutters Bruder Otto Behm, der dort kinderlos verheiratet war, in Frage.«
Reingard: »Wilhelm hat einen guten Einblick in das Schulsystem gewährt. Für Schulkinder in der Stadt war das Bildungsangebot viel besser, als auf dem platten Land. Vor allem wird daraus die Schwäche der ein- oder zweiklassigen Dorfschulen deutlich. Wir tauchen jetzt aber noch um einiges tiefer hinein ins 19. Jahrhundert. Denn es liegt uns eine Aufzeichnung vor, welche im Jahr 1820 erstellt wurde. Im Protokoll geht es um die ›Besoldung‹ des Dorflehrers.«
In Preußen wurde im 18. Jahrhundert das ›Generallandschulreglement‹ verabschiedet. Knaben und Mädchen sollen im Schulunterricht in Fertigkeiten wie ›lesen und schreiben‹ und Religion ausgebildet werden. Im 19. Jahrhundert wurde die allgemeine Volksschulpflicht daraus. Für die Provinz Pommern galt die Schulpflicht ab 1825. Das musste mit sehr zähen Verhandlungen einhergegangen sein. Widerstände gegen den generellen Schulbesuch der Kinder gab es hauptsächlich seitens der Bauern. Die wollten oder konnten nicht auf die Mithilfe der gesamten Familie auf Feld und Hof verzichten. Mit den Bildungschancen ihrer Dörfler haderten aber auch die Großgrundbesitzer. Denn eine Landbevölkerung mit ›Durchblick‹ war nicht erwünscht, war nicht leicht zu führen, deshalb wurde die Schulpflicht auch von dieser Seite torpediert. Die Schulbildung hatte es also schwer, den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung zu finden. Und dann müssen die Bauern auch noch den Schulmeister bezahlen! Das ist der Zündstoff, der zur Erstellung des ›Protocollum, gehalten zu Lodmannshagen am 6. Juli 1820‹ geführt hatte. Der Dorfschullehrer war von der Bauernschaft angestellt und zu entlohnen. Ob das Entgelt für den Lebensunterhalt ausreichte, darüber herrschte bei den Parteien Uneinigkeit.
Der Lehrer Johann Heinrich Bose aus Lodmannshagen hatte den Herrn Landrat Liedin um Vermittlung gebeten. In Anwesenheit des Dorfschulzen, der die Amtsgewalt des Bürgermeisters innehatte, der Bauern und des Schulmeisters wurde nun durch den Beamten das Jahressalär ausgehandelt. Zunächst wurde geprüft, was der vormalige Schulmeister erhalten hatte. Diese Leistungen erwiesen sich zum Lebensunterhalt als nicht ausreichend. Nun mussten die Landwirte dem Johann Heinrich Bose weitere Naturalien zugestehen. Neun Scheffel Roggen und drei Scheffel Gerste bildeten die fixe Besoldung. Darüber hinaus erhielt er Brennmaterial für den Winter, Kartoffeln und Weidemöglichkeiten für das von ihm gehaltene Vieh. All die Leistungen sind einzeln detailliert festgehalten worden. Des Weiteren war für den laufenden Unterricht von den Eltern der Schulkinder ein Beitrag zu entrichten. Das Schulgeld bemaß sich nach den zu vermittelnden Fertigkeiten:

·    für Kinder, welche lesen — 1 Schilling die Woche
·    für Kinder, die auch schreiben und rechnen — 2 Schillinge die Woche

Für die Feuerung im Winter von Michaelis bis Ostern mussten ein halber bzw. ein Schilling, je nach Ausbildungsstand, pro Woche zusätzlich entrichtet werden. Der Schulmeister Bose erklärte sich mit dem ausgehandelten Lohn einverstanden. Er merkte aber an, dass die Wohnung und die Schulstube ziemlich eng seien. Zusätzlichen Raum zu bauen wäre sehr wünschenswert. Die Bauern nahmen diesen Einwurf mit Unverständnis zur Kenntnis. Wenn es ums Geld geht, unterscheiden sich die damaligen Zeiten nicht von den unsrigen. Es ist immer das Gleiche, man versucht den Preis zu drücken, wo es nur geht.
Reingard: »Nun mal flugs zurück ins 20. Jahrhundert. Otto; Papa, du bist doch sowohl in Lodmannshagen als auch in Lubmin in die Dorfschule gegangen. Wie hast du deine Volksschulzeit empfunden?«
Otto: »In meinem Geburtsort Lodmannshagen hatten wir eine einklassige Dorfschule. Die war in zwei Gruppen aufgeteilt, die im selben Raum unterwiesen wurden. Die untere Stufe mit den kleineren Kindern der Jahrgänge 1 bis 4 unterrichtete der Lehrer Krüger, die älteren Schüler der Klasse 5 bis 8 der Schulleiter Dörnbrack. Es waren immer alle der ungefähr 40 Schulkinder anwesend und die Schulmeister unterwiesen abwechselnd ihre jeweilige Stufe. Das bedeutete, eine der beiden Gruppen musste sich mit irgendwelchen schriftlichen Ausarbeitungen beschäftigen. Sehr effektiv war dieser Unterricht nicht. Wie es im oberen Bereich aussah, kann ich aus eigener Anschauung nicht beurteilen, denn ich war einer der jüngeren Schüler. 1931 zog meine Familie in das Seebad Lubmin um und dort herrschten wesentlich bessere Zustände.
Dort gab es den Luxus zweier Klassenräume. Es handelte sich damit um eine zweiklassige Volksschule. Auch hier wurden etwa 40 Schüler unterrichtet. Der Lehrer für die Oberstufe war auch gleichzeitig der Schulleiter, hier in Lubmin war dies Herr Erich Leie. Er hat sich um die Schulbildung sehr große Verdienste erworben. Für die Rechenfertigkeit der Zöglinge der unteren Klasse hatte er zwei Leistungsstufen eingeführt und in der oberen waren es sogar drei. So bestand die Möglichkeit, die Schulkinder individuell nach ihren Fähigkeiten zu unterrichten. Die guten Schüler haben bei den gerade nicht unterrichteten Kindern die Aufsicht geführt. Später, als ich bereits ausgeschult war, kam noch eine dritte Lehrkraft hinzu. Eine Hauswirtschaftslehrerin, die die Mädchen im Kochen und in Nadelarbeiten anleitete. Daran wird schon deutlich, welches Regime wir damals hatten. Die Nazis legten viel Wert auf die Entfaltung der häuslichen Fähigkeiten.
Lehrer Erich Leie war ein außerordentlich beschlagener Mann, das muss ich unbedingt noch anmerken. Er besaß ein Wissen von sehr großer Bandbreite und konnte dies gut vermitteln. Ich habe mein Leben lang von der guten Ausbildung an dieser Schule profitiert. Ob das bei anderen Lehrkräften genauso gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln. Schulgeld, wie hundert Jahre zuvor, war für die Volksschule bei uns nicht zu bezahlen. Nur für die Realschulen und die Gymnasien musste Geld berappt werden.
Die städtischen Schulen Anfang des 20. Jahrhunderts waren wesentlich besser aufgestellt als die Dorfschulen. Diese Erfahrung hatte mein Bruder gemacht, der seine ersten Schuljahre in Stralsund verbrachte. Dort lebte er bei den Großeltern. Als die Großmutter verstarb, kehrte er zu den Eltern und Geschwistern nach Lubmin zurück. Dass er den Anschluss an die Dorfschule verpasste, lag daran, er hat sich gelangweilt und deshalb nicht aufgepasst. Bei uns war der Unterrichtsstoff noch nicht so weit gediehen wie in Stralsund. ›Ick kann dat nich begriepen, Herr Lindow!‹ Und dann hat’s für meinen Bruder was an die Löffel gegeben. ›Ick war di wat begriepen lihren‹, so lautete die Antwort.«
»Mutti; Christine, deine Volksschule war auch eine kleine Dorfschule im Sudetenland, in Nordböhmen. Gab es große Unterschiede zu den pommerschen Schulen?«
Christine: »Das Schulgebäude, das sich in Kuttendorf, dem Nachbarort meines Dorfes befand, war eine zweiklassige Unterrichtsstätte, wie die in Lubmin. Die Schulstunden werden ähnlich organisiert gewesen sein. Zwei Unterschiede gab es dennoch. Erstens, im erzkatholischen Sudetenland kam der Pfarrer aus der Nachbargemeinde regelmäßig einmal wöchentlich zur christlichen Unterweisung in die Klasse. Und zweitens, als ich eingeschult wurde, war ich noch tschechische Bürgerin. Trotzdem, der Unterricht wurde in deutscher Sprache erteilt. Im Alter von etwa 10 bis 12 Jahren fand ein privater Schüleraustausch mit tschechischen Familien statt, das war bei uns schon immer üblich. Meine Eltern wurden auf diese Weise ausgebildet und für uns war es genauso vorgesehen. So wurde sichergestellt, dass die einen die tschechische und die anderen die deutsche Sprache erlernten. Bei mir und meinen Geschwistern kam der Anschluss des Sudetenlandes 1938 an das Deutsche Reich dazwischen. Von der politischen Seite her bestand keinerlei Veranlassung mehr, die tschechische Sprache zu lernen, denn wir waren ja automatisch deutsche Staatsbürger geworden. Durch den einseitig provozierten Anschluss an Deutschland gab es viel böses Blut bei den Tschechoslowaken.
Reingard: »Das ist ein weites Feld und wird später noch zur Sprache kommen. In diesem Teil der Chronik und auch im zweiten Buch mit dem Titel ›Heimat im Herzen«.
Christine: »Ansonsten erhielten wir in unserer Volksschule eine solide Grundausbildung. Mein Bruder Walter ging ja sogar aufs Gymnasium in Schreckenstein. Weil er einen sehr, sehr weiten Schulweg hatte, wurde er bei Verwandten einquartiert. Die auswärtige Unterbringung dürfte Kosten verursacht haben. Ob die Schule zusätzlich noch Geld kostete, kann ich nicht sagen. Mich kümmerten solche Dinge damals noch nicht.«
Reingard: »Hört man euch heute so reden, seid ihr sehr zufrieden mit eurer Schulbildung. Zumindest konntet ihr darauf aufbauen. Andererseits, in diesen Zeiten bekam man schnell was an die Ohren oder aufs Hinterteil, für Unaufmerksamkeit, bei Fehlern! Körperliche Züchtigung in der Schule, das kenne sogar ich noch aus meiner Schulzeit in Bayern, Ende der fünfziger Jahre. Dort gab es in der total überfüllten Klasse ganz schnell mal was mit dem Tafellineal auf die Finger. Gute alte Zeiten? Ich glaube, in dieser Beziehung will sie niemand wirklich zurück!
Eine letzte Frage zum Thema Schule habe ich doch noch: Es geht um die Sprache, in eurer jeweiligen Heimat wurde jedenfalls kein Hochdeutsch als Umgangssprache benutzt, wie sah sprachlich der Schulalltag aus?«
Christine: »Bei uns wurde Dialekt gesprochen. Einige Klassenkameraden hatten in der Schule zum ersten Mal in ihrem Leben eine Berührung mit dem Hochdeutschen, obwohl wir den Begriff Hochdeutsch nicht benutzten. Wir nannten es die ›Schriftsprache‹ und entsprechend schwer fiel es manchen Mitschülern, damit umzugehen. Das Thema Sprachausbildung in der Tschechoslowakei habe ich ja grade erläutert.«
Otto: »In meiner Jugend war ›dat Plattdüütsch‹ die Umgangssprache für Stadt und Land, zumindest für die einfachen Leute. Das änderte sich ganz rasant im Laufe der folgenden Jahrzehnte. Heute ist Platt die Sprache der alten Menschen, der Bauern. In der Schule war die Unterrichtssprache Hochdeutsch, ausschließlich. Aber natürlich lernten wir plattdeutsche Gedichte und Lieder. Schließlich lebten wir im niederdeutschen Sprachraum. Schriftsteller und Dichter wie beispielsweise Fritz Reuter verfassten ihre Werke op platt, auf Plattdeutsch.«
Reingard: »Ja, ich erinnere mich, mit Oma Kurzenberg und mit Onkel Willi hast du stets ›Platt snackt‹. Im Urlaub in Holland sprachst du die Leute einfach in Plattdeutsch an und sie verstanden dich sofort.
Das Thema ›Schule‹ bringt ganz schön Schwung in den Laden. Es kommen immer mehr Erinnerungen zum Vorschein, damit wir nicht ins Unendliche abdriften, muss ich dafür sorgen, dass dieser Bereich nun verlassen wird. Und zwar jetzt!«
 

Pommernland ist abgebrannt! Seite 125-133

 

Mit dem Ende der persönlichen Geschichte Wilhelms bietet sich eine Zäsur an, die einen Blick auf die Vergangenheit Pommerns erlaubt. Wobei der Fokus hauptsächlich auf dem Bereich liegt, den man heute Vorpommern nennt. Für die Identität eines Volkes ist es immerhin wichtig zu wissen, woher man stammt. Wer oder was hat die Eigenarten der Leute geprägt, mit welchen Widrigkeiten hatten sie zu kämpfen?

Viele Entwicklungen in der Heimat am Meer kommen ja nicht von ungefähr, die haben sich gebildet, über Jahrhunderte hinweg. Ich denke hier ganz besonders an die Leibeigenschaft der bäuerlichen Bevölkerung seit dem Mittelalter. Hand- und Spanndienste für die Grundherren waren jedoch in vielen Teilen Europas üblich. In der Provinz Pommern hielt sich das Verfahren viel länger als anderswo. Das lag an dem starken Interesse der adligen Gutsherren, die überproportional von der leibeigenen Bauernschaft profitierten. Ich gehe davon aus, dass auch meine Vorfahren keine freien Leute waren. Rückständigkeit wird den Pommern nachgesagt, was nicht weiter verwunderlich wäre, denn die Herrschaft hatte kein Interesse an gebildeter Landbevölkerung. Es wurde untertänigste Ergebenheit verlangt und durchgesetzt. Solche Entwicklungen können nicht in kurzer Zeit gestoppt oder zurückgedreht werden. 

Die pommersche Dickköpfigkeit ist auch so ein Wesensmerkmal. Nicht umsonst sahen sich die mittelalterlichen Missionare genötigt, die slawische Bevölkerung zweimal zu bekehren. Beim ersten Mal waren sie vermutlich nicht überzeugend genug. Und so gehen wir weit zurück, in der Historie.

Das Land ›am Meer‹, so ist der Begriff ›Pommern‹ aus dem slawischen Sprachgebrauch übernommen. Die Definition des geografischen Gebiets ist schwierig, denn im Laufe der Geschichte gab es große Verschiebungen. Mit dem Fluss Recknitz beginnt das historische westliche Vorpommern. Heute endet das vorpommersche Gebiet, das in Deutschland liegt, an der polnischen Grenze. Der Raum Stettin gehörte früher einmal mit zu Vorpommern und ist nun zusammen mit Hinterpommern polnisches Staatsgebiet. So stellt sich Pommern seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dar.

Es fiel mir im Museumsshop des Pommerschen Landesmuseums in Greifswald ein Buch in die Hände, ›Pomerania(*FN* Johannes Bugenhagen, Pomerania, Faksimiledruck und Übersetzung der Handschrift von 1517/1518, herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte e.V. durch Norbert Buske, übersetzt von Lore Poelchau unter Mitwirkung von Boris Dunsch und Gottfried Naumann, mit Anmerkungen versehen durch Sabine Bock, Boris Dunsch und Dirk Schleinert, sowie einer Einführung von Volker Gummelt; Studienausgabe, 2009 Thomas Helms Verlag, Schwerin.*FN*)‹, der Autor ist Johannes Bugenhagen. Im Auftrag des pommerschen Herzogs Bogislaw X. verfasste er ein Werk zur Geschichte des Landes. Vor 500 Jahren! 1517/1518, um es genau zu datieren. Da die Pomerania in lateinischer Sprache geschrieben wurde, bekam sie lange Zeit keine allgemeine Aufmerksamkeit. Erst durch die Übersetzung fand die Publikation Beachtung bei der Leserschaft, die des Lateinischen nicht mächtig ist. Bugenhagen war also nicht nur Pfarrer, Reformator und Weggefährte Martin Luthers, sondern auch Historiker.

Johannes Bugenhagen veranschaulicht mit der Pomerania die Geschichte seiner Heimatregion, denn er wurde im hinterpommerschen Wollin geboren. Er beschreibt die geografische Lage des Landes und benennt die Nachbarn und die slawischen Stämme, die es bevölkern oder besiedelt haben, vor und nach der Völkerwanderung.

Die Oder charakterisiert er als mächtigen Strom, der im mährischen Waldgebirge entspringe und sich nach Norden wende. Dort an der Mündung an der Ostsee lag einst ›die berühmte Stadt Vineta‹.

Das sagenumwobene Vineta, das untergegangen sei, weil deren reiche Bewohner in tiefer Sünde und Hochmut lebten. Immer, wenn es Luftspiegelungen gebe, man etwas doppelt sehen könne, so bedeute es den Verderb, das war das Credo der Legende. Warnende Stimmen, die zum Verlassen der Stadt aufforderten, wurden nicht ernst genommen und so versank schließlich das große völkerreiche Vineta in einer Flutwelle. Das Motiv Sünde und Hochmut der Einwohner wird immer wieder gerne in der Sagenwelt als Grund für einen Untergang herangezogen.

Bugenhagen hält es für durchaus möglich, dass die sagenhafte Stadt Vineta heute die Stadt ist, die Wollin genannt wird. Vineta habe zur Zeit der Sachsenbekehrung noch existiert. Er könne die alten Chroniken der Slawen nicht ignorieren, die erwähnen, dass die Stadt noch im Jahre des Herrn 1.000 bestanden habe. Harald Blauzahn, der christliche König der Dänen habe sich nach der Verwundung durch seinen Sohn Sven Gabelbart nach dort geflüchtet. Der alte König sei dort im Jahr 986 verstorben.

Es gibt neben Wollin aber noch weitere Kandidaten, die als Standort von Vineta in Frage kommen könnten. Die Insel Ruden in der Peenmündung und der Ort Koserow, an der schmalsten Stelle der Insel Usedom haben wahrscheinlich die geringsten Standortargumente. Anders verhält es sich bei der Stadt Barth. Wissenschaftler haben Thesen erarbeitet, wonach sich der Mündungsarm der Oder verlegt haben könnte. Der Nachweis ist aber noch nicht erbracht.

Der spätere Reformator untersucht noch die slawischen Wurzeln des Greifen-Herrscherhauses und die Gründe, weshalb statt slawisch nun deutsch gesprochen werde. Die slawische Herkunft wird durch die Namenswahl deutlich, Wartislaw, Ratibor, Bogislaw, Kasimir, Barnim, Swantibor. Dies sind nur einige Namen in der Reihe der Pommern-Herzöge. 

 Breiten Raum nimmt jedoch das Thema der wiederholten Christianisierungen der heidnischen Volksstämme ein. Schwere Rückschläge gab es dabei zu verzeichnen. Im 11. Jahrhundert verfielen die slawischen Stämme wieder dem Götzenglauben. Christliche Missionare wurden getötet und der Kriegsgottheit ›Radegast‹ geopfert. So erging es Johannes Scotus, dem Bischof von Mecklenburg, der 1066 den Tod fand. Erst dem ›Apostel der Pommern‹, Otto von Bamberg gelang im 12. Jahrhundert die nachhaltige Bekehrung der Ungläubigen, indem rigoros die heidnischen Götzenbilder zerstört wurden. 

Da es sich bei der ›Pomerania‹ um ein Auftragswerk handelt, beschreibt Bugenhagen im dritten Buch, ›von den erlauchten Fürsten der Pommern‹, das Geschlecht der ›Greifenherzöge‹. Das Wappentier, der aufrecht schreitende Greif gab ihnen den Namen. Wartislaw I. findet als christlicher Unterstützer der Bemühungen Ottos von Bamberg als Stammvater des Greifengeschlechtes großes Lob. Die Herzöge des Greifenhauses hatten gegen viele Übernahmeinteressen anderer Fürsten und Landesherren zu kämpfen, so auch der Auftraggeber des Werkes, Bogislaw der Zehnte seines Namens.

Als Johannes Bugenhagen sein Werk verfasste, war er noch vollumfänglich auf der Linie des Katholizismus. Mit den Schriften Martin Luthers setzte er sich anschließend auseinander und machte sich 1521 auf den Weg nach Wittenberg. 1522 heiratete er dort und 1523 wurde er in Wittenberg Stadtpfarrer. Als der Enkel von Bogislaw X., Philipp I. die Regierungsgeschäfte führte, konnte sich die Reformation Martin Luthers auch in Pommern durchsetzen.

1536 heiratete der Herzog Philipp I. Maria von Sachsen, die Tochter des Kurfürsten Johann des Beständigen. Martin Luther traute das Paar in Torgau an der Elbe. Diese Trauung ist das Bildmotiv des Croÿ-Teppichs. Auftraggeber des monumentalen Kunstwerkes war der Herzog von Pommern, gearbeitet wurde der Wirkteppich in Stettin. Dargestellt sind Martin Luther predigend auf der Kanzel und unter ihm die versammelten herzoglichen und kurfürstlichen Familien, das Brautpaar sowie die Reformatoren Melanchthon und Bugenhagen. Die Tapisserie befindet sich im Besitz der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. 

Gerd und ich hatten das Vergnügen, dieses Kunstwerk im Pommerschen Landesmuseum in Greifswald zu bewundern. In einem stark abgedunkelten Raum wurde der riesige Teppich ausgehängt. Spezielle Lampen gaben ein spärliches Licht ab, das die empfindlichen Farben des Croÿ-Teppichs schont. Von seiner ursprünglichen Farbigkeit hat das Textil im Laufe der Jahrhunderte schon viel eingebüßt, nichts aber von seiner Faszination.

Es waren finstere Zeiten! Seit 1618 verwüstete ein Krieg große Teile des ›Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation‹. Seinerzeit prallten viele dynastische, machtpolitische und religiöse Interessen aufeinander. Der Greifenherzog Bogislaw XIV. wäre gern neutral geblieben, allerdings zwangen ihm seine Bündnispartner die Kriegsteilnahme auf. Die Hansestadt Stralsund wurde von Wallensteins Truppen belagert und mit dänisch/schwedischer Hilfe vor der kaiserlichen Übernahme bewahrt. Die Stadt bezahlte diese Hilfeleistung mit sehr großen Zugeständnissen an die Schweden, was die Verwaltung der Stadt anging. Quasi vor der Haustüre meiner vorpommerschen Heimat landete 1630 der faszinierende schwedische König Gustav II. Adolf in Peenemünde an der Ostseeküste. Der König fühlte sich und sein Reich durch seinen katholischen Vetter Sigismund III. Wasa, der als polnischer König in Warschau regierte, bedroht. Seither gilt Gustav II. Adolf aus dem Hause Wasa als Retter des Protestantismus. 

 Dem königlichen Machtpolitiker, der Schweden zur Großmacht im baltischen Raum erhob, war der Greifenherzog nicht gewachsen. Bogislaw XIV. war kinderlos verheiratet. Die Erbfolge bei fehlenden männlichen Nachfolgern war vertraglich seit 1529 mit dem brandenburgischen Kurfürstenhaus geregelt. Pommern war seit 1630 schwedisch besetzt. Die brandenburgischen Erbansprüche ignorierten die Schweden, als 1637 der Erbfall eintrat. Es gab ein jahrelanges Gezerre um Pommern, selbst im ›Westfälischen Frieden‹ 1648 wurde noch keine endgültige, abschließende Lösung gefunden. Erst 1653 wurde Einigkeit in der Teilung Pommerns in Vorpommern, schwedisch und Hinterpommern brandenburgisch erzielt. Der letzte Greifenherzog Bogislaw XIV., der 1637 verstorben war, wurde 1654 feierlich, wie es heißt, beigesetzt.

 

Maikäfer flieg; das berühmte Maikäfer-Kinderlied erklang leise im Hintergrund, als wir das Pommersche Landesmuseum in Greifswald besuchten:

 

Maikäfer flieg,

dein Vater ist im Krieg,

die Mutter ist in Pommernland,

Pommernland ist abgebrannt,

Maikäfer flieg.

 

Es wird von Historikern angezweifelt, dass dieses Volkslied mit dem Dreißigjährigen Krieg unmittelbar im Zusammenhang stehe. Jedoch, die Aussage ›Pommernland ist abgebrannt‹; die beschreibt sehr gut den Zustand, in dem sich die Provinz Pommern öfter befand, nicht nur im Dreißigjährigen Krieg!

De facto begann 1630 die schwedische Zeit, de jure erst 1648 mit dem Westfälischen Frieden. Diese Schwedenzeit verwickelte das Land in eine Reihe von kriegerischen Konflikten. Einerseits diente es als Ausgangspunkt für Angriffe der schwedischen Streitkräfte, anderseits war es selbst Kriegsschauplatz, wie in den ›Nordischen Kriegen‹. Viele politische, internationale Interessen ließen Land und Leute nicht zur Ruhe kommen. In den Friedensverträgen wurden Landesteile hin und her verschoben, letztendlich blieb es aber bei Schwedisch Pommern bis 1815. ›Pommernland ist abgebrannt‹; wie wahr. Die periodischen Friedenszeiten des 18. Jahrhunderts bescherten den Bewohnern der pommerschen Provinz gesicherte Existenzen.

Seltsamerweise wurden wichtige Errungenschaften für die Bevölkerung vom schwedischen Mutterland nicht in die pommersche Besitzung übertragen. Der Grund dafür war folgender; der schwedische König hatte gleichzeitig den Titel des ›Herzogs von Pommern‹ inne, mit allen Rechten und Pflichten gegenüber dem Kaiser und dem Reich. Das befugte ihn nicht dazu, die Privilegien der Adelshäuser, der Gutsherren, anzutasten. Eines der vermeintlichen Anrechte im Feudalismus war es, die Bauern in Leibeigenschaft zu halten. In die Abhängigkeit des Adels geriet die Landbevölkerung häufig durch das umstrittene ›Bauernlegen‹. Dies eine Methode, sich die dem eigenen Rittergut umliegenden Höfe einzuverleiben. Zwar waren mit der Einziehung von Landwirtschaften auch Pflichten seitens des Gutsherrn verbunden, die wurden aber gern vernachlässigt. Der Bauer verlor so sein Recht auf eigenständiges Arbeiten und Verwalten seines Landes, die freie Wahl des Aufenthaltes und auch heiraten konnte er nicht wen und wann er wollte. Der Feudalherr verfügte außerdem häufig auch über die ›niedere Gerichtsbarkeit(*FN* Geringere Delikte konnten von Gutsherrn selbst bestraft werden, z. B. durch Geldbußen, Ehren- oder Prügelstrafen.*FN*)‹ und das Züchtigungsrecht. 

Anfang des 18. Jahrhunderts, nach dem Großen Nordischen Krieg, verlor Schweden immer mehr von seinem Großmachtstatus. Das Gebiet südlich der Peene einschließlich Stettin ging endgültig an Preußen. Zum Ende des Jahrhunderts versuchte der König Gustav III. absolutistische Macht an sich zu reißen. Verschwörer aus dem schwedischen Adel ermordeten 1792 den Monarchen auf einem Maskenball. Sein unmündiger Sohn Gustav IV. Adolf folgte ihm auf den Thron, war als Politiker aber wenig begabt. 

Napoleon hatte die politische Bühne betreten und Europa mit Krieg überzogen. 1806, als sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation schon in Auflösung befand, gliederte Gustav IV. Adolf Schwedisch Pommern dem Mutterland an. So wurde letztendlich auch die Leibeigenschaft für aufgehoben erklärt. Die Umsetzung der Reformvorhaben nahm aber nur langsam Fahrt auf. Das Ende von Schwedisch Pommern wurde im ›Wiener Kongress‹ 1815 besiegelt, die Provinz fiel komplett an Preußen. 

Die Entlassung aus der Leibeigenschaft erfolgte gegen eine Ablösesumme, die die einstigen Dienstleister nun auch noch an die ehemalige Herrschaft zu zahlen hatten. Die Separation des Gutes und Dorfes Lodmannshagen liefert ein Beispiel hierfür.