KURZENBERG № 2


Viele Begriffe sind heutzutage nicht mehr im gängigen Sprachgebrauch, die wurden in Fußnoten (FN) erklärt. Genausowie die geschichtlichen Ereignisse, um den "Zeitgeist" zu verdeutlichen.

 

KURZENBERG № 2 - Heimat im Herzen

 

Leseprobe:

 

INHALTSVERZEICHNIS
BLICK ZURÜCK!                 9
KURZENBERGS HEIMAT        15
LEBENSBÄNDER                23
CHRISTINES HEIMATLAND        45
ZEICHEN AUF STURM            67
KDE DOMOV MŮJ                75
DER LANGE MARSCH            98
VERPASSTE JUGEND          116
GETEILTES DEUTSCHLAND      141
DDR-LEBEN                  164
REPUBLIKFLUCHT              190
LAGERLEBEN                              224
ANGEKOMMEN              252
ZWEIMAL DEUTSCHLAND      265
IMPLOSION                  277
DANKE, DANKE                  291

KURZENBERGS HEIMAT (S. 15)
Das Seebad Lubmin an der Küste des Greifswalder Boddens, in Vorpommern, das ist mein Geburtsort und der meiner Geschwister. Nach dem Verlust der Wassermühle in Lodmannshagen, etwa 10 Kilometer von hier entfernt, verschlug es Vater Ottos Familie nach hierher. Wann und wie meine Eltern sich hier kennenlernten, wird noch thematisiert werden. Heimat war das Dorf nur für eine relativ kurze Zeitspanne, jedoch ist es immer der Sehnsuchtsort Muttis und Papas geblieben. Es bedeutete für sie den Neuanfang, sowohl für Christine nach der Irrfahrt durch das kriegszerstörte Deutschland als auch für Otto, nach den Jahren der Gefangenschaft.
Fischerei, Landwirtschaft und Fremdenverkehr, über einen langen Zeitraum hinweg verdienten die Bewohner damit überwiegend ihren Lebensunterhalt. Die herrliche Küstenlandschaft bot allen Berufsgruppen die Möglichkeit des Broterwerbs. Die berufsmäßige Fischerei gehört inzwischen längst der Vergangenheit an, denn Lubmin besaß früher keinen eigenen Hafen für die Fischerboote. Die zog man einfach an Land, eine sehr mühsame Verrichtung! Ich habe damals in den 1970er Jahren selber für meine Oma direkt vom Boot grüne Heringe fürs Mittagessen eingekauft. Die fehlende Anlegestelle wird für das Ende der Fischerei des Ortes gesorgt haben. Andere Küstendörfer wie Freest hatten die Nase längst vorn.
Mein Vater Otto liebte es, mit seinem Faltboot hinaus auf den Bodden zu fahren, um dort zu angeln. Hauptsächlich auf Hecht und Barsch. In unserer frühen Kindheit durften mein Bruder Roland und ich ihn bei den Paddeltouren manchmal begleiten. Wir waren ja noch sehr klein und haben wohl ab und zu auch Unsinn gemacht. Das duldete er nicht, wir mussten in dem Fall unter der Spritzdecke verschwinden. Jedenfalls haben die Kindheitserlebnisse meine Schwäche für Paddelboote gefördert. Immer, wenn ich in so ein schwankendes Faltboot einsteige, überkommt mich ein altvertrautes Gefühl.
Als Boddengewässer bezeichnet man die flachen Randgewässer der Ostsee, die von den zerklüfteten Landmassen der Inseln und des Festlandes eingerahmt sind. Der Wasseraustausch der Buchten mit der offenen See wird durch diese Lage behindert. Auf diese Weise entstanden salzarme Küstengewässer, die der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt optimalen Lebensraum bieten. Die geschützte Lage suggeriert vielleicht eine Sicherheit, die es nicht gibt. Denn Sturmfluten können der Boddenlandschaft durchaus zusetzen. In der Vergangenheit wurden in Lubmin größere Strandteile weggerissen und das hohe Steilufer von den Fluten unterspült. So beschädigte 1995 eine Sturmflut die nagelneue Seebrücke des Ortes. Vor wenigen Jahren erlebte ich an der Boddenküste einen heftigen Sturm. Am Strand war der Aufenthalt unmöglich, denn der Sand wurde mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft befördert und prallte schmerzhaft aufs Gesicht. Der heulende Wind, die rauschenden Bäume und die aufgewühlte See erzeugten wieder die Vertrautheit der Kinderjahre, die ich hier verbrachte.
Was macht Lubmin aus, was ist an dem Seebad so charakteristisch? Ist es der unendlich lange feinsandige Strand? Sind es die Dünen, worin der Sanddorn wächst, das Kliff-Ufer, die Heide, die Promenade oder der Kiefernwald. Bis zum Küstensaum und in den Ort hinein erstreckt sich der Wald. Ein herrlich dörfliches Ortsbild, das hoffentlich nicht weiter durch Baumfällaktionen angetastet wird. Es ist die Komposition aus Wald, Heide, Strand und Meer, all dies bewirkt den unvergleichlichen Charme Lubmins. Der würzige Duft des Kiefernwaldes, die sandigen Wege und den Blick über den Bodden, wie haben die Eltern das alles vermisst.
Der Waldcharakter ist hinreißend und die reetgedeckten Fischerhäuser umgeben von Bauerngärten machen die ursprüngliche Bestimmung des Dorfes deutlich. Urlauber, die Ruhe und Beschaulichkeit suchen, die finden sie hier. Seit über hundert Jahren wird Lubmin von Badegästen aufgesucht und der Tourismus ist aktuell ein wichtiger Wirtschaftszweig. Kleine Kinder können im Bereich des flach abfallenden Meeresgrundes relativ gefahrlos in der See baden und spielen. Es ist ein Seebad für die ganze Familie, die sportlich aktiv sein möchte. In den letzten Jahren gewann Kitesurfen zunehmend an Bedeutung. Wanderpfade durch die Heide und zum sagenumwobenen Teufelsstein, einem eiszeitlichen Findling, ergänzen das Freizeitangebot. Ausflüge zu den Hansestädten Greifswald und Stralsund, zu den Inseln Rügen und Usedom runden das Programm ab.
Und da wären noch die Altlasten aus der DDR-Zeit. Die wunderschöne Lubminer Heide dezimierte man damals, um dort ein Kernkraftwerk nach sowjetischer Bauart zu errichten. Ein sehr problematisches, weil störanfälliges, gefährliches Unternehmen. Das Kühlwasser wurde obendrein in den Greifswalder Bodden geleitet. Das Atomkraftwerk wird derzeit zurückgebaut. Umweltschützer protestieren darüber hinaus gegen die industrielle Nutzung des Areals als Atommüllzwischenlager und gegen die Anlandestelle der Ostsee-Pipeline. Die Gasleitung aus Russland erreicht hier das deutsche Festland und hier befindet sich die Verteilerstelle auf andere Leitungssysteme. Die Verlegung der Rohrleitung von Russland bis Lubmin war ein gigantisches und stark umstrittenes Projekt. Eine Zeitlang gab es darüber hinaus noch Konzepte für ein Kohlekraftwerk, dagegen liefen Bürgerinitiativen Sturm. Die Pläne wurden offenbar verworfen. Es lohnt sich, zu kämpfen, macht es doch deutlich, man muss und darf sich nicht alles gefallen lassen. Alles, was sonst an Industrie schon da ist, ist ja schlimm und belastend genug. Von Usedom bis Greifswald, alle Branchen, die vom Tourismus leben, haben starke Bedenken gegen ein Kohlekraftwerk und andere industrielle Nutzungen in einer Ferienregion.
Endlich besitzt Lubmin auch einen Hafen, am Auslaufkanal des Kraftwerkes entstand eine Marina. Eine sinnvolle Verwendung des ehemaligen Kühlwasserkanals und eine echte Bereicherung des touristischen Angebotes. Ich bin inzwischen ein paar Mal dorthin gewandert, immer am Strand entlang. In der Nähe des Sportboothafens befindet sich das Industrieareal, das verbaute Heideland ist leider für die Allgemeinheit verloren gegangen.
Hinter dem Auslaufkanal beginnt der Struck, eine in den Bodden hineinragende Halbinsel, begrenzt durch den Peenestrom. Die Insel Usedom befindet sich am jenseitigen Ufer. Sämtliche zivile Anwohner mussten den Inselnorden in den neunzehnhundertdreißiger Jahren verlassen, damit die Nazis dort eine Heeresversuchsanstalt einrichten konnten. Später kam die Erprobungsstelle der Luftwaffe dazu. Diese Peenemünder Anlagen sind nun wiederum die Altlasten aus jener Periode. Otto berichtete mir, dass während der Nazizeit auch der Struck ein bewachter Teil der Erprobungsstelle der Luftwaffe war. Denn hier gingen oft die Trümmerteile der Objekte aus den Flugversuchen runter. Es seien dort damals Tafeln aufgestellt gewesen, die das Areal als Naturschutzgebiet auswiesen und dass Ausländern die Anwesenheit dort verboten sei. Über diese Schilder hatten sich die Jugendlichen gewundert, ›so ’n Blödsinn‹, haben sie sich gedacht. Gleichwohl eine knifflige Situation, denn der Aufenthalt auf dem Struck war weder erlaubt, noch untersagt. Andererseits patrouillierten dort Zollbeamte mit Hunden. Der Ort Freesendorf beim Struck wurde von den Nazis nicht geräumt. Die Bewohner durften bleiben, die Fischer des Dorfes erhielten allerdings eine Einweisung, wie sie sich den Wachhunden gegenüber zu verhalten hatten. Vielleicht gehörte das alles zur Tarnung, dass man die Einwohner vor Ort beließ, um dem Areal ein möglichst normales Erscheinungsbild zu verpassen. Das Fischerdorf existiert heute trotzdem nicht mehr, stattdessen steht dort das Kernkraftwerk Nord.
Die Neugierde der Lubminer Jugendlichen war durch die Flugversuche geweckt worden. Auf Usedom geschah etwas, was man vor der Öffentlichkeit verbergen wollte. Einmal hörte man auf dem Festland eine gewaltige Detonation. Gerüchte machten die Runde, es sei bei Peenemünde ein Explosionskrater von der Größe eines dreistöckigen Hauses entstanden. Immer wieder fand man zerschellte Flugkörper auch auf dem Festland. Die abgestürzten Trümmerteile verbargen die Militärs schnell im Sand, wenn die sofortige Bergung nicht möglich war. Offenbar hat das Regime, haben die Wissenschaftler in Kauf genommen, dass es bei den Erprobungen auch zu Unfällen mit der Zivilbevölkerung kommen kann.
Herumfliegendes, manchmal abstürzendes Fluggerät, das war ein Szenario, welches auf die jungen Kerle einen unwiderstehlichen Reiz ausübte. »Gehen wir mal zum Struck«, so forderte Ottos Freund Fritze ihn auf. Der Entdeckungsausflug führte über den zugefrorenen Bodden zur Halbinsel. Otto fuhr mit dem Fahrrad über Schnee und Eis und sein Kumpel hatte Schlittschuhe an den Füßen und ließ sich mitziehen. Auf dem Struck fanden sie Zielscheiben vor. Auf Stahlbetonpfeilern waren Schwedenstahlplatten(*FN*    Besonders hochwertiger rostfreier Edelstahl aus Schweden. Zeichnet sich durch vorzügliche Festigkeit aus.*FN*) montiert, die Dellen durch Beschuss aufwiesen. Ganz geheuer war den Burschen dieser Besuch aber nicht.
Mitten im Krieg, im August 1943 bombardierten britische Kampfflugzeuge Peenemünde. Die Angriffe richteten zwar große Schäden an, aber nicht dergestalt, dass der ganze Betrieb eingestellt werden musste. Die Nazis verlagerten daraufhin den Raketenbau unter Tage nach Thüringen und in dezentrale andere Standorte. Enorme menschliche Verluste waren durch den Luftschlag zu beklagen. Ausgerechnet die Schwächsten, die unfreiwilligen Bewohner der Region, die Zwangsarbeiter hatte es besonders hart getroffen. Die waren schutzlos dem Angriff ausgesetzt. Wer nicht dem Bombardement zum Opfer gefallen war, der wurde anschließend von britischen Tieffliegern erschossen, die die brennenden, ins Wasser fliehenden Personen niedermähten. Etliche leitende Wissenschaftler des Raketenprojektes kamen gleichfalls ums Leben. Otto berichtet, dass auch zivile Mitarbeiter, die aus Lubmin stammten, dabei starben. Die englische Luftwaffe war einem Irrtum aufgesessen, mangels ungenauer Ortskenntnis war es ihnen nicht gelungen, Peenemünde zu eliminieren.
Die Heeresversuchsanstalt und die Erprobungsstelle der Luftwaffe hatten auf der Insel Usedom sehr viele verwertbare und kostbare Materialien verbaut. Nach dem Krieg mussten Bewohner der sowjetischen Besatzungszone, die zwangsrekrutiert wurden, die Metalle aus dem Erdreich der Insel Usedom bergen. Die Russen hatten alles Brauchbare vom Standort Peenemünde als Reparation nach Russland geschickt.
Doch zurück in unsere Zeit. Den alten Bahnhof im Ortskern von Lubmin, den habe ich noch genau in meinen Kindheitserinnerungen. Das inzwischen schön restaurierte Gebäudeensemble beherbergt die Kurverwaltung und Gästeeinrichtungen. Heute stehen auf einem kleinen Gleisabschnitt neben dem Bahnhof zwei Waggons, die früher auf der Kleinbahnstrecke nach Lubmin gefahren sind. Mitglieder eines Vereins haben sich um die abenteuerliche Aufspürung, Rückführung und Restaurierung der Eisenbahnwagen aus Russland verdient gemacht. Es hat sich also einiges in die richtige Richtung entwickelt.
Ganz in der Nähe des Bahnhofes, in Sichtweite, in der Neptunstraße wohnten die Kurzenbergs. Unzählige Erinnerungen hängen an der Region, die Eltern lernten sich in Lubmin kennen und gründeten Hausstand und Familie. Meine Kinderjahre verbrachte ich hier mit den Geschwistern. Doch dazu später mehr.

 

ZEICHEN AUF STURM (S.67)


Zu dem Unheil, das durch die Tschechen über die Sudetendeutschen hereinbrach, gibt es natürlich eine Vorgeschichte, denn man darf die Ereignisse nicht isoliert voneinander betrachten. Es ist damals sehr viel Unrecht geschehen, auf beiden Seiten.
Während des habsburgischen Kaiserreiches wurde der Vielvölkerstaat mühsam zusammengehalten. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Donaumonarchie 1918 sollte nach dem Willen von deutschsprachigen Abgeordneten die demokratische Republik ›Deutschösterreich‹ entstehen. Der Staat sollte alle deutschsprachigen Gebiete der ehemaligen Monarchie umfassen. In St. Germain bei Paris verhandelten die verbündeten Mächte(*FN*    USA, Großbritannien, Frankreich und viele weitere Staatsmächte verhandelten die Auflösung Österreichs nach dem 1. Weltkrieg.*FN*) einen Staatsvertrag. Die nach dort entsandte österreichische Delegation wurde an den Beratungen nicht beteiligt, sie durfte allenfalls schriftliche Vorschläge unterbreiten. Die Siegermächte akzeptierten die Bestrebungen Österreichs nicht und in einem Nebenvertrag des Versailler Abkommens, im Vertrag von St. Germain wurden 1919 völkerrechtliche Tatsachen geschaffen. Der neugegründeten Republik Tschechoslowakei wurden Böhmen und Mähren zuerkannt. Alle dort lebenden Deutschen wurden de facto zu Tschechoslowaken. Staatspräsident der Republik war von 1918 bis 1935 Tomáš Garrigue Masaryk(*FN*    Tomáš Garrigue Masaryk (1850 - 1937), der Philosoph, der Politiker wurde und von 1918 bis 1935 dreimal der gewählte Staatspräsident der Republik Tschechoslowakei war. Rücktritt vom Amt im Dezember 1935.
*FN*), ein auch von der deutschen Seite akzeptierter Staatsmann. Der Nachfolger im Präsidentenamt nach Masaryks Rücktritt am 14. Dezember 1935 war sein früherer Außenminister Edvard Beneš(*FN*    Edvard Beneš (1884 - 1948), Außenminister, Ministerpräsident und Staatspräsident der Tschechoslowakei. Nach dem Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich ging er ins Exil nach London. Dort gründete er eine Exilregierung unter seinem Vorsitz. Die sog. Beneš-Dekrete wurden in dieser Zeit erarbeitet und 1946 ratifiziert.
*FN*). Dem Parlament in Prag fehlte es allerdings an Weitsicht, denn viele Autonomievorschläge der Minderheiten verliefen im Sande, wurden von den tschechoslowakischen Parlamentariern blockiert. Das alles spielte ab 1933 den Nationalsozialisten in die Hände, denn so konnte die Unzufriedenheit der sudetendeutschen Bevölkerung in ihrem Sinn ausgenutzt werden. Hitler gelang es, den Parteichef der Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein(*FN*    Konrad Ernst Eduard Henlein (1898 - 1945) Führungspersönlichkeit der Sudetendeutsche Partei (SdP). Er erzielte 1935 einen grandiosen Wahlsieg bei den tschechoslowakischen Parlamentswahlen. Anschließend erfolgte verstärkt eine Annäherung an das nationalsozialistische Deutsche Reich, die in der Angliederung des Sudetenlandes an dieses mündete.*FN*) vor seinen ideologischen Karren zu spannen. Im ersten Teil des Buches ›Wassermühle von Lodmannshagen‹, im Kapitel ›Zeitenwende‹ sind die Ereignisse zum Anschluss an das Deutsche Reich im Jahr 1938 beschrieben.
Im März 1939 errichtete Hitler das ›Protektorat Böhmen und Mähren‹. Die Juden und die tschechischen Einwohner der annektierten Gebiete bekamen nun die ›Säuberungsaktionen‹ ihrer Besatzer zu spüren. Verfolgungen, Internierungen und Hinrichtungen von politischen Gegnern, Enteignungen, Zwangsumsiedlungen und Deportationen waren die Folge. In den industriellen Zentren wurden einheimische Arbeiter eingesetzt, um die deutsche Rüstungsindustrie zu fördern. Bekannterweise war das NS-Regime nicht gerade zimperlich, wenn es sich um die Umsetzung der Expansionsziele handelte. So nahm die Gestapo, die Geheime Staatspolizei, sofort nach dem Einmarsch die Arbeit auf. Verhaftungsaktionen fanden statt, denn Studenten und sonstige unliebsame Persönlichkeiten sollten mundtot gemacht werden. Und der Weg von ›mundtot‹ zu gänzlich tot war in jenen Zeiten manchmal kurz und an der Tagesordnung.
Die Judenverfolgung setzte auch hier ein. Für diese Bevölkerungsgruppe gab es nur noch sehr wenige Fluchtziele innerhalb Europas. Zwischen den Flüssen Eger und Elbe liegt die Garnisonsstadt Terezín (Theresienstadt), in unmittelbarer Nähe zur Kreisstadt Leitmeritz. Die alte Festung aus dem 18. Jahrhundert wurde zum Gestapo-Gefängnis und zum Konzentrationslager ausgebaut, nachdem die zivile Bevölkerung die Stadt verlassen hatte. Die Festungsanlage wurde zum Durchgangslager. Das KZ Theresienstadt war vorwiegend ein Sammellager, von hier aus wurden Juden und die politischen Gefangenen auf die Vernichtungslager im Osten verteilt. Innerhalb der alten Festungsmauern starben massenhaft Häftlinge an Unterernährung, Entkräftung und Krankheiten sowie durch Hinrichtungen ohne Gerichtsverhandlung.
Das Protektorat Böhmen und Mähren bekam im September 1941 einen neuen stellvertretenden Reichsprotektor. Reinhard Heydrich(*FN*    Reinhard Heydrich; geboren 1904 und am 4. Juni 1942 in Prag gestorben. Er war u. a. SS-Obergruppenführer und der stellvertretende Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Heinrich Himmler hatte in Heydrich einen vertrauten, engen Mitarbeiter, der skrupellos die Tötungsmaschinerie in Gang setzte. Hermann Göring beauftragte ihn mit den Vorbereitungen zur ›Endlösung der Judenfrage‹.*FN*), er war ein skrupelloser Emporkömmling. Mit brutalen Methoden bekämpfte er den böhmischen Widerstand und entwickelte die Pläne für die Judendeportationen zu den Vernichtungslagern.
Von London aus wurden von Exil-Tschechen Sabotageakte und letztendlich das Attentat auf Heydrich organisiert. Operation Anthropoid lautete der Tarnname für den Gewaltstreich, den zwei Widerstandskämpfer ausführten. Den Anschlag selber, per Panzergranate, überlebte der Reichsprotektor nur knapp, er verstarb acht Tage danach an den zugefügten Verletzungen. Heydrich erhielt in Berlin ein Staatsbegräbnis.
Mittels brutalster Ermittlungsmethoden konnten Gestapo-Männer das Versteck der Untergrundkämpfer finden, die sich der Verhaftung durch Selbstmord entzogen. In Prag richteten die Nazis den orthodoxen Bischof und drei Priester hin, die den Widerstandskämpfern in ihrer Kirche Unterschlupf gewährten. Das reichte den Nazi-Schergen aber nicht aus, ihre Rachegelüste zu befriedigen. Sie wollten ein Exempel statuieren und so erschossen sie in dem Dorf Lidice sämtliche männlichen Bewohner über fünfzehn Jahre. Die weiblichen Einwohner und die Kinder wurden verschleppt und größtenteils ermordet. Ein paar Tage danach überfiel man das Örtchen Ležáky, welches anschließend nicht mehr auf der Landkarte zu finden war. Mit solchen Schreckenstaten gedachten die Nazis, sich Respekt zu verschaffen. Es gibt etliche Dörfer in Europa, die als Vergeltung für Sabotageakte in der Folgezeit ein ähnliches Schicksal erlitten haben.
Die Nationalsozialisten dachten über die ›Umsiedlung‹ der tschechischen Bevölkerung nach. Von ›Umvolkung‹ war da die Rede. Gemeint war die ›Germanisierung‹ der für diesen Vorgang für fähig befundenen Personengruppen. Der Rest, den die Nazis nicht mit durchfüttern wollten, der sollte in Arbeitslagern verschwinden oder einer Sonderbehandlung unterzogen werden. Eine Sonderbehandlung, ein recht harmloses Wort für Mord!
Mit den Tschechen sprang man noch nicht ganz so rüde um, wie mit deren polnischen Nachbarn. Denn die tschechischen Arbeiter benötigte man dringend in der Rüstungsindustrie. Zur Erhaltung ihrer Leistungsfähigkeit wurden sie ausreichend ernährt. Für die Zeit nach dem Endsieg nahm man sich den oben genannten Maßnahmenkatalog vor.
Sechs Jahre dauerte die deutsche Besatzung an! Viel unschuldiges Blut floss und in dieser Zeit staute sich unendlich viel Hass bei den Tschechen auf. Das rechtfertigt aber nicht die Schandtaten, die Massaker, die der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg angetan wurden. Ohne Ansehen der Person, ohne Prüfung, ob ein eigenes Verschulden vorlag. Es wurde vielfach einfach draufgehauen, auf alle die Deutsche waren. Dieses Verhalten der Tschechen war genauso verwerflich, wie die Gewaltherrschaft der Nazis. Das ist das missverstandene alttestamentarische Auge um Auge, Zahn um Zahn(*FN*    Auge um Auge, Zahn um Zahn, damit ist nicht gemeint, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern eine Schadenersatzregelung zu finden. Das Alte Testament meint damit den angemessenen Ausgleich zwischen Schuld und Sühne. Es meint kein undifferenziertes Zuschlagen auf den Gegner.
*FN*)-Prinzip.
»Schlagt sie, tötet sie, lasst niemanden am Leben!«, so lautete der Appell in der BBC(*FN*    Britisch Broadcasting Corporation; unter anderen war die BBC während der NS-Zeit eine wichtige Informationsquelle für die Menschen, die den sogenannten ›Feindsender‹ hörten. Über die Sender wurden Hintergrundinformationen verbreitet, die man ansonsten niemals erfahren hätte. Feindsender hören konnte mit drastischen Strafen belegt werden, bis hin zur Todesstrafe!*FN*) am 3. November 1944. General Sergej Ingr, Mitglied im Exilkabinett von Edvard Beneš stimmte seine Landsleute auf die Nachkriegszeit ein.
In London saß die tschechische Exilregierung, die für die Zeit nach dem Krieg Dekrete ausarbeitete, die mit den Alliierten abgestimmt wurden. Zusammen mit den Verordnungen der Nachkriegsregierung wurden insgesamt 143 Direktiven vom provisorischen Parlament ratifiziert. Der wesentliche Teil der Erlasse befasst sich mit der Neuordnung des Landes. Etliche Bestimmungen ›regeln den Umgang‹ mit der deutschen und der ungarischen Minderheit, um es mal milde auszudrücken. Darin werden die entschädigungslosen Enteignungen des privaten, betrieblichen und landwirtschaftlichen Vermögens gerechtfertigt. Genauso wie die Arbeitspflicht der Personenkreise, die der Tschechischen Republik ›untreu‹ geworden seien und ihrer ›Entfernung‹ aus dem Land. Zusammen mit der oben genannten Hetzkampagne führten die Dekrete zu großem Leid der deutschstämmigen und ungarischen Minderheiten.