Der Norden des Bottnischen Meerbusens war erreicht. Wir näherten uns der Stadt Kemi, bei der wir die Ostseeumrundungsroute verlassen wollten, um den Abstecher zum Nordkap zu machen. Zwischen Kemi und der Stadt Tornio führt die Straße E75 hinein ins Landesinnere. Lappland – allein das Wort drückt schon die Magie der Landschaft aus. Bei der Reiseplanung wurde uns klar, dass bis zum Nordkap von Tornio aus keine 900 Kilometer mehr zurückzulegen sind. Die Entscheidung fiel kurz und knackig aus: Machen wir!
Noch ein paar Sätze zu den vorherrschenden Temperaturen bis hierher. Die waren nämlich selbst für Finnland Anfang Juni 2015 untypisch kühl. An der Küste zwischen Helsinki und Oulu hatten wir allenfalls 13 Grad. Ich habe die Menschen dort sehr bedauert, dass sie so um ihren kurzen Sommer gebracht wurden. In den Zeiten des Klimawandels ist auf nichts mehr Verlass.
Auf der Küstenstraße fuhren wir weiter in Richtung der Hafenstadt Kemi und überquerten die Mündung des Flusses Kemijoki. An diesem trüben, grauen Tag ging es auf der Europastraße 75, dem Flusstal aufwärts folgend, hinein ins Binnenland bis nach Rovaniemi. Die Stadt ist das Verwaltungszentrum des finnischen Teils von Lappland, nur ein paar Kilometerchen entfernt südlich vom Polarkreis. Während der Fahrt gab es zwar einige kurze Regenschauer, trotzdem kamen wir zügig voran. Am Ufer des Kemijoki, zwischen zwei stattlichen Brücken gelegen, befindet sich der Campingplatz, direkt gegenüber dem Stadtzentrum. Zum Einkaufen gingen wir in die Innenstadt, der Weg führte uns auf dem Hinweg über die doppelstöckige Eisenbahnbrücke. Unten fahren die Autos und darüber die Bahnen. Das Stadtbild von Rovaniemi selber hat uns nicht umgehauen, ähnlich wie in Oulu ist es eher nichtssagend, uninteressant. Sind wir jetzt Architekturbanausen, weil wir das so empfinden? Mit der vollen Einkaufstüte kehrten wir über die zweite Querung, das ist eine futuristische Hängebrücke, zurück auf den Campingplatz. Der, nebenbei gesagt, mit 30 Euro die Nacht, der bisher teuerste war. Auf Rückfrage zu dem happigen Preis erklärte man uns, dass die exorbitant gute Lage, gleich bei der Stadt den hohen Betrag rechtfertige. Dafür hatte der Platz dann auch eine nur mäßige Qualität. Ich bin ja gespannt, was wir später am Nordkap für die Unterkunft im eigenen Zelt zahlen dürfen. Dieser 1a-Standort war ansonsten dazu angetan, dass uns die Ohren abfielen, sobald einer der endlos langen Güterzüge, beladen mit Langholz, laut ratternd die Eisenbahnbrücke passierte.
Im Zweiten Weltkrieg wurde Rovaniemi 1944 von der deutschen Wehrmacht und durch eine gewaltige Explosion fast vollständig zerstört. Finnische Architekten entwarfen die neu zu konzipierende Stadt in der Form eines Rentiergeweihs. So wird es jedenfalls berichtet, erkennen kann man diese Gestalt vielleicht aus der Luft oder am Reißbrett. Ich habe keine Ahnung, wie man sich ein Stadtbild in Geweihform vorstellen muss. Wie gesagt, Architektenkunst hin oder her, die Innenstadt hat uns nicht umgehauen. Sehr viel reizvoller dagegen ist das bewaldete, bergige Umland, durch die Einmündung vom Ounasjoki in den Kemijoki mit vielen Wasserflächen. Der Nebenfluss ist vermutlich sehr flach und fließt seenartig erweitert hinein ins Flussbett des Kemijoki.
Die imaginäre Linie des Polarkreises, ein paar Kilometer nördlich von Rovaniemi rückte immer näher heran. An und über der Straße sind Informationstafeln angebracht, die darauf hinweisen, dass jetzt der gedachte Breitenkreis überschritten würde.
Santa’s Express, dieser Bus brachte uns ins kommerzielle Zentrum des Weihnachtsmannes beim Polarkreis. Im Weihnachtsmanndorf selbst ließ man die Koordinaten des Breitengrades ins Straßenpflaster ein. Die sind nicht völlig korrekt, denn die angegebene Lage 66° 32′ 35″ nördlicher Breite ist kein statisches Maß. Das verschiebt sich im Laufe der Jahre weiter nordwärts, was an der Neigung der Erdachse liegt. Die wird ›Schiefe der Ekliptik‹ genannt, und bewirkt die Jahreszeiten und somit die Sonneneinstrahlungsdauer auf der Erde. Daran erinnere ich mich noch nebulös aus meiner Schulzeit. Der Polarkreis hingegen befindet sich längst nicht mehr auf dem Gelände vom Santa-Claus-Village. Wen interessiert’s, wenn es so reizende Fotos zu schießen gilt. Zusätzlich zum Weihnachtsmanndorf und zum ›Arctic Circle‹ komplettiert der Santa-Park, ein weihnachtlicher Vergnügungspark für Kinder, das Ensemble.
Um den ganzen sommerlichen Weihnachtszauber im Stil von Rovaniemi kamen selbst wir nicht herum, schließlich sind wir Großeltern. Ja, im Mittsommer ist es schon ausgesprochen merkwürdig, wenn Weihnachtsmusik erschallt. Die Umgebungstemperaturen entsprachen jedoch eher denen vom Dezember, so lagen an geschützten Stellen immer noch Schneereste. Der Besuch beim Weihnachtsmann sei völlig kostenlos, nur für Foto und Besuchsvideo zahle man 40 Euro. Aha! Wir stiegen in den ersten Stock hinauf, zur Kammer des Santa Claus. Wenn jetzt noch eine Busladung Touristen vor uns in der Warteschlange gestanden hätte, ich wäre sofort umgedreht! Nein, nein wir hatten nur ein Pärchen aus China vor uns in der Reihe stehen und bald darauf ließ uns der Helfer mit Zipfelmütze eintreten. Die Wichtel sind das weihnachtliche Hilfsgeschwader. Der Weihnachtsmann hält in seiner Kammer Hof. »Herzlich willkommen am Polarkreis«, so begrüßte er uns in deutscher Sprache. Einer der Helferwichtel hatte dem Santa gesteckt, dass wir aus Deutschland kämen, deshalb empfing er uns in unserer Landessprache. Mit seinem Wortschatz war er sehr schnell am Ende, er bat um die Fortführung der Unterhaltung, »in english, please«. Yes, yes! Vielbeschäftigter Mann, was muss er nicht alles können, inzwischen sogar chinesisch. Er freue sich ja so auf seine Weltreise im Dezember, ließ er uns wissen und zeigte uns den Atlas. Ja, beeindruckend ist so ein Weihnachtsmannjob.
Wir hatten einen Auftrag aus Hamburg abzuarbeiten, vor dem wir uns nicht drücken konnten. Den Polarkreis überschreiten, ohne beim Weihnachtsmann ›Hallo‹ zu sagen, das ginge gar nicht, wurde uns aufgetragen. Wir erzählten dem Santa, dass der fünfjährige Enkel uns einen kleinen Stein mit auf die Reise gegeben hätte, damit wir immer wissen, dass und wie sehr er uns vermisse. Nebenbei bemerkt, das Steinchen, welches die Fahrt begleitete, fotografierten wir ab und zu an den unterschiedlichsten Orten. So eben auch in der Kammer des Weihnachtsmannes. Santa Claus war gerührt von der Geschichte, schrieb eine Autogrammkarte und hielt anschließend das Steinchen in die Kamera. Die Karte mussten wir ein wenig, nennen wir es mal, ›modifizieren‹. Schließlich können wir ja den anderen Enkel, den kleinen Bruder nicht ausschließen. Wir ergänzten einfach ein paar Buchstaben, machten beispielsweise aus ›my dear friend‹, my dear friends und setzten den weiteren Namen dazu. Frankiert und ab damit in den Briefkasten, der erst im Dezember geleert wird! Die werden sich vielleicht wundern, wenn Post vom Weihnachtsmann höchstpersönlich ankommt. Na logisch kamen wir nicht umhin, das Beweismaterial des Besuches zu erwerben. Außerdem noch die vielen Postkarten, die gleich vor Ort im Restaurant geschrieben wurden, damit der Santa Claus-Stempel vom Postamt des Weihnachtsmanndorfes drauf kommt. Leider vergaß ich, den Santa zu fragen, woher er die wunderbaren riesigen und warmen Schlappen hatte. Mollige Filzpantoffeln, das wäre jetzt genau das Richtige für mich, gegen meine kalten Füße.
So, die Weihnachtswerkstatt war abgearbeitet, ab sofort konnten wir uns mit den Themen der arktischen Region auseinandersetzen. Der Besuch des Arktikums in Rovaniemi stand auf dem Programm. Ein modernes lichtdurchflutetes Gebäude erwartete uns. Hier bekamen wir erste Eindrücke vom Leben in Lappland, von der Kultur, sowie von der Unterdrückung und Ausbeutung der samischen Urbevölkerung. In den Ausstellungsräumen sind die Lebensbereiche dargestellt. Im vorderen Bereich des Glaskuppelganges werden kunstgewerbliche Artikel verkauft. Überwiegend sind es Textilien, Schmuck und Arbeiten aus Rentierleder und Horn. In den Hörsälen finden Vorlesungen für ein ausgewähltes Publikum statt.
Wir blickten von den Liegesesseln aus nach oben, hinein in das Firmament der nördlichen Himmelskugel. Den Feuerfuchs, Firefox, kannte ich bisher nur in der Funktion als Internet Webbrowser. Hier erlebten wir ihn in der Audiovisionsshow in seiner angestammten Rolle. Am Rand der Projektionsfläche in der Kuppel umkreiste der Polarfuchs mit erhobener Rute den nordischen Sternenhimmel. Mit dem buschigen Schweif schlug er um sich und entzündete das kosmische Feuerwerk der Polarlichter und dem aufgewirbelten Schnee entsprangen die Sterne. Uns Zuschauer tauchte man tief ein in die Welt der Aurora borealis, die Sphäre der Nordlichter. In der finnischen Mythologie ist der Feuerfuchs dafür verantwortlich, das die Lichter grün, weiß, rot oder violett über den Nachthimmel peitschen. Heute gibt es wissenschaftliche Erklärungen für das Naturphänomen. Eindrucksvoll ist die Erscheinung allemal. Wegen der durchgehenden Helligkeit ist das Phänomen im Sommer nicht sichtbar. Es gibt nur vage Zyklen, in der die Aktivität des Sonnenwindes so stark ist, dass mit Polarlichtern gerechnet werden kann. Die besten Beobachtungszeiten dafür sind im September, Oktober und März im Norden Islands, Skandinaviens und Russlands. Ein klarer Nachthimmel ist außerdem unabdingbar. Es gibt also viele Eventualitäten, die zusammenkommen müssen, um das Schauspiel zu erleben.
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