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Die Spur der Kirschen

Meine Mutter Christine erzählt weiter aus ihrem Leben in der damals jungen DDR. Es herrschte wenige Jahre nach dem 2. Weltkrieg großer Mangel auf allen Ebenen. Sie selber kam 1946 als Vertriebene aus dem Sudetenland nach Lubmin, einem kleinen Seebad am Greifswalder Bodden. Hier musste die mütterliche Familie mühsam Fuß fassen, und hier lief ihr mein Vater Otto, ein Einheimischer, über den Weg, hier gründeten die beiden eine Familie.

»Ob die jungen Leute von heute eigentlich ermessen können, wie schlecht es damals um unsere Ernährung stand?«, sinniert Christine. »Wie glücklich wir darüber waren, wenn uns jemand anbot, Kirschen von seinem Baum zu pflücken? Mein Bruder Walter und ich sind sofort mit geborgten Fahrrädern losgefahren.« 

 

Der besagte Kirschbaum stand jedoch nicht auf dem Festland bei Lubmin, sondern auf der Insel Usedom im Ort Neppermin. Die Kleinbahn Greifswald – Wolgast wurde in den vierziger Jahren als Reparationsleistung an die Sowjetunion geliefert. Folglich fuhren die Geschwister mit den geliehenen Fahrrädern von Lubmin bis Wolgast, der alten Residenzstadt an der Peene. Die Brücke zur Insel macht die Stadt zum Tor nach Usedom. 

Diese Klappbrücke besaß zu der damaligen Zeit jedoch keine Gleise. Urlauber, die von Berlin kommend auf die Insel wollten, mussten damals am Bahnhof Wolgast ihren Zug verlassen und mit ihrem Gepäck zu Fuß die Brücke queren, um dann mit der Inselbahn weiterzufahren. 

Christine und ihr Bruder nahmen von der Haltestelle auf der Inselseite die Bahn bis hin zum Kaiserbad Bansin. Von dort aus radelten sie zwischen dem Gothensee und dem Schmollensee bis zu dem abseits der Seebäder gelegenen Dorf Neppermin. Dort wohnte Ottos Kollege von der Peenewerft, der das so freundliche Anerbieten machte.

 

Kaczmarek, so haben ihn alle genannt. Christine erinnert seinen tatsächlichen Namen nicht mehr. Er kam jeden Morgen von der Insel Usedom mit dem Inselzug nach Wolgast gefahren. Naja, und mein Vater Otto, der fuhr früh morgens vom Seebad Lubmin, wo wir lebten, mit dem Bus zur Arbeit in die Peenewerft. Wie viele andere Leute aus dem Dorf auch. 

Christine berichtet weiter: »Die Familie vom Kaczmarek besaß in Neppermin einen großen Garten. Stolz zeigte die Mutter im alten Bauernhaus ihren Elektroherd. Allerdings konnte der nur selten betrieben werden, weil der Strom stark rationiert war. Trotzdem, mein Bruder interessierte sich sehr dafür und war beeindruckt. Walter und ich stiegen dann in den Kirschbaum und ernteten die Früchte. Den großen Korb voll luden wir auf den Gepäckträger des Fahrrades und fuhren zurück nach Hause. 

Ohje, war das ein Desaster! Die Straßenverbindung von Wolgast nach Lubmin war extrem schlecht. Es war eine echte Rumpelstrecke, das Geschüttel bekam unseren empfindlichen Kirschen aber sehr schlecht. Auf und nieder bewegte sich die Ladung. Die Früchte matschen derart zusammen, dass der Saft aus dem Korb auslief und auf dem Fahrweg eine feine Spur hinterließ.«

Das war die Spur der Kirschen! Na immerhin, die Familien konnten sich aus dem Gemansche noch Kirschensuppe, Kompott und Saft machen. Auch die Nachbarn profitierten von dem Schatz. Zucker gab’s übrigens nur auf Lebensmittelmarken, wenn überhaupt. Glasbehälter waren außerdem eine Rarität. Christine erklärt mir, wie sie kleine Medizinflaschen sammelten und auskochten, um sie steril zu machen. Korken rein und dann zusätzlich die Öffnung in Stearin getaucht, um die Konservierung zu erreichen. Das hat dann mal geklappt oder auch mal nicht.

Eine Sache galt es noch zu klären: wann war diese denkwürdige Kirschenernte? Das musste Anfang der 1950er Jahre gewesen sein, in einem Jahr, in dem meine Mutter nicht schwanger war. Gemeinsam rechnen wir nach und kommen zu dem Schluss, das konnte nur im Jahr 1952 gewesen sein. 

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