VOLKSKUNST AN DER OSTSEE
Die Lebensgeschichte meines Onkels Wilhelm Kurzenberg war einst von den »Freester Fischerteppichen« bestimmt. Hier ist seine Lebensgeschichte:
Es ist die Ironie des Schicksals, dass Ottos Bruder Willi mit seiner Mutter Margarete in der DDR wohnhaft blieb. Alle anderen Familienmitglieder waren im Laufe der Jahre in den Westen gegangen. Willi wollte sein Leben eigentlich überhaupt nicht in der sowjetischen Besatzungszone führen, hatte er sich doch nach der Gefangenschaft 1949 extra nach Wilhelmshaven entlassen lassen. Der Liebe wegen ging er später in die DDR zurück und dort hielt ihn dann die schwere Krankheit TBC fest. Die gesundheitliche Prognose sah seinerzeit sehr düster aus. Die große Ansteckungsgefahr, besonders für Familienmitglieder war dann der Grund für die Auflösung seines Verlöbnisses mit Gerda. Die Vernunft hatte gesiegt, aber beide Partner haben diese Trennung niemals verwunden. Willi musste sich später einer Lungenoperation unterziehen, die und die schweren Komplikationen überlebte. Ein Lungenflügel klappte zusammen. Oma Margarete pflegte ihn aufopferungsvoll, das schaffte eine sehr große Nähe zwischen Mutter und Sohn. Eine viele Jahre andauernde Behandlung folgte in Krankenhäusern und Heilstätten. Im erlernten Beruf arbeiten konnte er mit den Einschränkungen der Atmung nicht mehr.
Das Leben in der DDR ging seinen Gang, mit allen Unzulänglichkeiten und Versorgungsengpässen. In der Heilstätte begann er damit, sein gestalterisches Talent weiterzubilden. Kunsthandwerkliche Gegenstände und Aquarelle existieren heute noch in der Familie. Hier kam seine schöpferische Ader zur Geltung, denn er hatte das kreative Gen seines Vaters geerbt.
Pommersche Fischerteppiche, Freester Fischerteppiche oder ›Perser der Ostsee‹ werden die textilen Erzeugnisse aus der vorpommerschen Region genannt. Aus widerstandsfähiger Schafwolle und mit maritimen Motiven der Ostseeregion geknüpft sind die Wand- oder Bodenbeläge von großer Qualität und Wertbeständigkeit. Offizielle Amtsträger der Nazizeit und der DDR verschenkten solche Arbeiten gerne an Staatsgäste oder hochgestellte Persönlichkeiten. Die ›Volkskunst‹ wurde selbstredend von den jeweiligen Machthabern der Diktaturen für sich vereinnahmt. Und somit schmückten dann auch Nazi-Größen und DDR-Politiker damit ihr Heim.
Teppiche gestalten und anfertigen hatte an der Ostseeküste vor 1928 keinerlei Tradition. Der Landrat Werner Kogge musste seinerzeit eine dringende, drängende Frage lösen, womit konnten die arbeitslos gewordenen Fischer ihren Lebensunterhalt verdienen? Denn die Ostseefischer bekamen ein dreijähriges Fangverbot auferlegt. Überfischung war der Grund, eine Schonzeit zur Erholung der Bestände wurde behördlich verfügt. Das war nicht das erste Verbot dieser Art und wird auch nicht das Letzte gewesen sein. Die zündende Idee des Landrates war es, die Fischer in der Teppichknüpferei in Heimarbeit auszubilden. Von Berufswegen hatten die ja reichlich Erfahrung mit dem Reparieren, dem Flicken der Netze, der Fanggeräte. Er brauchte einen Fachmann zur Anleitung und Motivation der Männer. Zu diesem Zweck schaltete er eine Zeitungsanzeige, auf die sich der Österreicher Rudolf Stundl meldete. Der Textilfachmann brachte einen großen Erfahrungsschatz und Entwürfe auf dem Gebiet der orientalischen Teppiche mit ein. Morgenländische Ornamentik passte nun nicht in die nördliche Region am Meer. Deshalb schuf er eigene Teppichmuster und ließ sich dabei von der Küstenlandschaft, Meer, Dünen und Wald inspirieren. Er hat sich zweifellos um die Maßnahme sehr verdient gemacht. Das Projekt entwickelte sich dank seines Einsatzes und der Vermarktungsstrategien zum Erfolgsmodell. Ohne den kaufmännischen Gewinn wäre das Instrument kaum zum Erwerb des Lebensunterhaltes tauglich gewesen.
Nach dem Ende des Fangverbotes übernahmen hauptsächlich die Fischersfrauen die Knüpfarbeiten und erreichten auf dem Gebiet große handwerkliche Qualität und Kunstfertigkeit. Der Volksschullehrer Erich Leie aus Lubmin unterwies in den 1930er Jahren seine Schüler zum Thema Fischerteppiche. Er war von der Sache schwer angetan und konnte die Begeisterung gut weitervermitteln. Lehrer Leie interessierte sich sehr für die Umsetzung und Weiterentwicklung der maritimen Ornamentik und arbeitete eng mit Stundl zusammen. Er motivierte die Schüler zu eigenen Entwürfen und so mauserten sich großartige Talente innerhalb der Schulklassen im Bereich des Musterentwerfens. Mein Vater erinnert, dass besonders die Mädchen großen Eifer an den Tag legten. Wohingegen die Jungen die ständigen Zeichnungsarbeiten nicht so prall fanden.
Damals formierten sich die Dörfer Freest, Lubmin und andere, sowohl auf dem Festland als auch auf der Insel Usedom, bereits zu Zentren der Teppichknüpferei. Die eigentlichen Arbeiten führten die Knüpferinnen in Heimarbeit aus. Rudolf Stundl hatte Knüpfstühle entwickelt, die von der Höhe her hinein in die niedrigen Fischerstuben passten.
Irgendwo habe ich gelesen, dass die Teppiche anfangs aus der Wolle des schleswig-holsteinischen Deichschafes gearbeitet wurden. Das Material zeichnete sich durch feste Griffigkeit und robuste Faserstruktur aus, denn die Schafe wurden im rauen Klima der norddeutschen Salzwiesen gehalten. Nachdem sich die DDR vom Westen abgeschottet hatte, bezog man die Knüpfwolle aus der Mongolei, einem sozialistischen Bruderstaat. Die dort produzierte Schafwolle besaß gleichfalls die benötigte standfeste Qualität, denn auch mongolische Schafe waren Wind und Wetter ausgesetzt.
1953 gründete sich die Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) für den kunsthandwerklichen Bereich, ›Volkskunst an der Ostsee‹ genannt. Die Leitungsfunktion übernahm Rudolf Stundl. Willi Kurzenberg wurde 1953 dort in der Genossenschaft Mitglied. Dies war ein Arbeitsbereich, der seinen Neigungen sehr entgegen kam. Zeichnen und Teppichmuster entwerfen, das hatte er ja bereits im Schulunterricht gelernt. Und er ging voll in der Arbeit auf, das war genau sein Ding. Er selber schrieb in einem Brief, ihm sei die Teppichknüpferei sehr ans Herz gewachsen. Meine Familie konnte die weitere künstlerische Entwicklung von Ottos jüngeren Bruder fluchtbedingt nur aus der Ferne miterleben. Wiewohl mein Vater Otto mit Willi im engen brieflichen Kontakt stand.
Krankheitsbedingt war Willi Frührentner, da er noch nicht ausreichend viele Berufsjahre nachweisen konnte. Er bekam deshalb in der DDR die Mindestrente. Er lebte viele Jahre gemeinsam mit seiner Mutter in einem Haushalt zusammen und mit deren Minirente sind sie so mal eben über die Runden gekommen. In einer Heilstätte lernte er seine spätere Ehefrau Erika kennen. Die beiden Frauen, Mutter und Schwiegertochter harmonierten absolut nicht miteinander. So war es ein Glücksfall, als das Ehepaar eine eigene kleine Neubauwohnung in Greifswald-Schönwalde zugewiesen bekam. Willi und seine Frau konnten aus der uralten Fischerkate in Lubmin ausziehen.
Die Teppicharbeiten dürften für ihn finanziell ein kleines Zubrot gewesen sein. Außerdem hatte er eine Aufgabe, die er voll und ganz liebte. Er entwarf Muster nach eigenen Vorstellungen und nach Vorlagen, die es in unserer Familie schon gab. Mein väterlicher Großvater, Ottos und Willis Vater hatte große Begabung in der Schnitzarbeit entwickelt. Die Drei- und Vierfisch-Motive mit ineinander verschlungenen Schwänzen verwendete Wilhelm Kurzenberg in der Schnitzerei und die übernahm man ins Teppichmuster-Verzeichnis. Anschließend untersagte man Wilhelm die weitere Nutzung seiner eigenen Entwürfe, die man als Volkskunst vereinnahmt hatte.
Auf diese Weise haben vermutlich viele Teppichentwerfer in den Schätzen der Familien nach maritimer Ornamentik für die Fischerteppiche gesucht. Wahrscheinlich machten sie ähnliche negative Erfahrungen mit ihren Werken. Bei vielen der Entwürfe lässt sich heute deshalb der Urheber nicht mehr feststellen.
Willi repräsentierte die Teppichknüpferkunst auf Ausstellungen und in Museen. Er fertigte für uns, seine Familie, Zeichnungen von Knüpfstühlen an, erklärte, wie die Bespannung gemacht wird, welche Gerätschaft benötigt und in welcher Weise geknüpft wird.
Seit 1957 hat das Seebad Lubmin eine eigene Kirche, die St. Petri-Kirche. Vor dem Altar dieser Kirche liegt ein Fischerteppich, den Willi Kurzenberg entworfen hat, die Knüpferinnen des Werkes waren Frau Beuge und Fräulein Manzke. Die Namenskürzel der Knüpferinnen, des Entwerfers, die Jahreszahl 1958 und der Ort Lubmin sind im Teppich dargestellt. Diese Vorgehensweise war nicht die Regel. Viele der Teppiche haben namentlich unbekannte Entwerfer und/oder Knüpferinnen.
Willi empfand sich als Künstler und deshalb traf es ihn hart, als Rudolf Stundl, der Leiter der Genossenschaft seine Entwürfe als eigene ausgab. Mehr noch, er diskreditierte ihn zum reinen ›Erfüllungsgehilfen‹. »Der Malergeselle, der mal ein paar Muster machte!«, so urteilte er über ihn. Das war eine Art Tiefschlag für Onkel Willi. Er wehrte sich vehement gegen die Vereinnahmung seiner Skizzen als ›Volkskunst‹. Denn auf dieser Schiene war es der Genossenschaft möglich, die Muster zu anonymisieren, deren Herkunft zu verschleiern. Über diese Angelegenheit kam es zwischen Willi und Stundl zu ausgewachsenen Auseinandersetzungen, die zu Willis Austritt aus der Produktionsgenossenschaft führte. Ob das ganz freiwillig war, ist nicht überliefert.
Der Begriff ›Volkskunst‹ wurde arg strapaziert, während des ›Dritten Reiches‹ und auch im Verlauf der DDR-Zeit. Die Nazis betonten eine völkische Herkunft in der uralten Überlieferung der Teppichkunst, die es überhaupt nicht gab. Und die DDR wollte ein Kollektiv aus Gestaltern und Knüpfern konstruieren, die möglicherweise genauso wenig ein Team waren, wie die Nazis völkisch.
Die maritimen Bezüge in der Ornamentik definiert Willi als Volkskunst in dem Sinne, dass die Kunstwerke von den ganz normalen Leuten geschaffen wurden. Eine Handarbeit, die es weiterzuentwickeln galt, die nicht auf einem festgelegten Stand stehen bleibt. Viele der Muster hatten ja ihren Weg aus ganz anderen Sparten in die Teppichknüpferei gefunden. Die Tradition sei zu pflegen und zu entfalten, um sie am Leben zu erhalten. Allerdings unterschätzte er den wirtschaftlichen Erfolg bei der Vermarktung der Produkte. »Das Geschäft allein kann nicht ausschlaggebend sein, denn da würde unsere Volkskunst zur Meterware.«; so schrieb er einmal in einem Brief an meine Familie. Ohne die Nachfrage nach Teppichen blieben die Arbeiten im Regal liegen, davon kann dann keiner leben. Und genauso geschah es dann später ja nach der Wende. 1992 wurde die PGH mangels Käuferinteresse aufgelöst.
Doch zurück ins Jahr 1965. Die Zusammenarbeit mit Stundl lehnte Willi kategorisch ab. Sein Problem war, wollte er künstlerisch tätig sein, brauchte er Material, das es käuflich nicht zu erwerben gab. Das war sein großes Dilemma. Er hätte sich vielleicht auf die Malerei besinnen können. Für den Arbeitsbereich wäre es möglich gewesen, aus dem Westen Leinwände, Karton oder Farben und Pinsel zu beschaffen. So aber verharrte er in Passivität, es gelang niemanden, ihn entsprechend zu motivieren. Er strapazierte mit seiner Haltung die Nerven von Familie und Freunden. Das künstlerische Potential lag brach, wir fanden es alle sehr schade, weil er sich total verbiestert hatte. Textile Arbeiten machte er weiterhin, Buchhüllen mit Ornamentik auf Stramin gestickt und geknüpfte Kissenplatten zum Beispiel. Er führte auch stets ein Skizzenbuch mit sich, es enthielt seine Musterentwürfe. Auch auf Millimeterpapier zeichnete er Teppichmuster. Willis Ehefrau Erika hatte nicht erkannt, wie wichtig ihm die künstlerische Gestaltung war und ihn in diese Hinsicht nicht angespornt. Denn im Jahr 1972 ging Rudolf Stundl in den Ruhestand, die Wiederaufnahme der Arbeit wäre vermutlich möglich gewesen. Aber Willi war schon so verbittert, dass es für ihn nicht mehr in Frage kam.
Dieser Streit beeinträchtige somit das gesamte restliche Leben. Das war seine Tragik!
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